Strassburg

Besser  im Herbst

 

Sieben Stunden braucht es an einem Spätsommertag von Berlin bis Straßburg. Mit dem Notwenigen für eine Nacht geht es über das Kopfsteinpflaster zum Straßburger Münster, geradewegs auf das überreich geschmückte Portal zu. Auf diesem Weg muss sich auch J.W. Goethe dem Bau genähert haben, als er über das Münster schrieb und seinen Erbauer zum Original-Genie im Sinne des Sturm und Drang erhob. Auf diesen Steinen ging er, JWG. 

Vor dem großen Portal biegen wir nach links ab zum reich verzierten Fachwerkhaus der Maison Kammerzell. Es ist ein viergeschossiges Fachwerkhaus mit steilem  Giebel. In die Fassade eingefügt sind Skulpturen, die die Werte des Humanismus versinnbildlichen. Die Fensterrahmen, die Ecksäulen, die Schauflächen sind mit Figurenschmuck übersät. Butzenscheibenfenster, Dachgaube mit Aufzugsbalken, alles hier ist Geschichte, die 1427 begann. Bis 1589 wurden die drei Geschosse aufgezogen. 

Hat JWG hier gegessen? Hat er hier gar übernachtet? 

Die gerahmten Fotos im Treppenhaus belegen, dass nahezu jede Hollywood-Prominenz, französische Filmprominenz und dazu politisch bedeutsame Figuren von beiderseits des Rheins hier gegessen und/oder getrunken haben. Das Haus schmückt sich mit Konrad Adenauer, Alain Delon, der verblichenen Königinmutter von England und Elisabeth Taylor. Ronald Reagan wird auch erwähnt, kann aber wohl kaum als Schmuck gelten. Dagegen strahlt strahlt aus einem Rahmen Robert Downey jr., mit dem kann man schon Staat machen.

Nun also wir.

Straßburg liegt im Elsass, also wählen wir im Kammerzell aus den elsässischen Spezialitäten. Das Rennen macht Sauerkraut mit mehreren Sorten Wurst und Fleisch. Zutiefst elsässisch. Sieht in der Praxis so aus: Auf einem Teller wird eine Portion heißes Sauerkraut angerichtet und mit so viel Wurst und Haxen und Wellfleisch bedeckt, dass es vollständig verschwunden ist. Die Würste sind gut gewürzt, das Fleisch ist auf die Minute durch und zart und saftig. Für unsere beiden Portionen dürfte ein ganzes Schwein gestorben sein.

Die Gaststube mit ihren dunklen Möbeln und den hohen Kreuzbögen ist so altdeutsch wie das Essen. Gemalte Schilder über den Türen verweisen auf die KÜCHE, auf HERREN und den FERNSPRECHER. Der Raum ist mit einer gemütlichen Patina überzogen, wie sie nur durch jahrzehntelanges Rauchen erzeugt wird. 

Die Wände sind mit großflächigen Malereien verziert, sinnigerweise mit der Darstellung eines mittelalterlichen Festgelages, wie man erfreut feststellt, während man überlegt, ob man wirklich wie ein ausgehungerter Landsknecht alle Würste vom Teller essen sollte. 

An der Stirnwand des Gastraumes präsentiert ein Mann im Stil des 16. Jahrhunderts einen Wimpel mit der Aufschrift "Das wahre Narrenschiff", rechts von ihm treibt eine Kogge mit geblähten Segeln, die wohl das Narrenschiff selbst ist. Eine Signatur weist Leo Schnug als Künstler aus, der dieses Gemälde 1905 an die Wand brachte. Eine Erinnerung keimt auf: Sebastian Brant / drittes Semester Germanistik / Straßburger /  Hauptwerk "Das Narrenschiff", eine Sammlung von Sinngedichten.

Hat Brant nicht auch gewettert gegen die Völlerei, gegen das unsittliche Schlemmen von viel Fleisch und Wurst und köstlichem Sauerkraut?

Es ist Nacht. Um das Münster und das Kammerzell sollte Nachtruhe eintreten. Doch erste Zweifel kommen auf, als die letzten Gäste mit lauten Schritten das Kammerzell verlassen. Mit ihren engen Gassen und Winkeln ist die Altstadt um das Münster sehr hallig. Jede Geräuschabstrahlung findet zahlreiche Ecken und Kanten, in denen sie sich sammeln und vervielfältigen kann. Im kleinen Zimmer unter dem Dach im alten Fachwerkhaus ist es heiß. Man müsste die Fenster öffnen. 

Unten aber - es ist Samstagnacht - ziehen erst späte Touristen, dann feierwütige Jugendliche um die Häuser. Es stellt sich heraus, dass der französische Heranwachsende, wenn er in Schwärmen auftritt, zu enormer Geräuschentwicklung fähig ist. Ausdauernd. Man schließt das Fenster. Es wird heiß. So kann niemand schlafen. Man öffnet die Fenster. Erneut ein Pulk Jugendlicher. Extrem gut drauf, extrem laut. Man schließt die Fenster. So kann niemand schlafen. Man öffnet das Fenster. In diesem Moment nimmt eine Belüftungsanlage ihren Dienst auf, die wahrscheinlich ausreicht, das gesamte Münster in fünf Minuten einmal komplett durchzupusten. Man schließt das Fenster. So kann niemand schlafen. Man öffnet das Fenster. In diesem Moment beginnen die Glocken des Münsters zu läuten, mahnen erbarmungslos: "Tempus fugit." 

Das muss man keinem sagen, der seit Stunden im Bett liegt und noch kein Auge zugetan hat! 

Es reicht. Man holt den Computer hervor, googelt das "Narrenschiff" und setzt sein Studium  fort. 1494 ist das Werk erschienen, damals stand bereits der erste Ausbau des Maison Kammerzell. Man scrollt und findet: 

Der weder Tag noch Nacht hat Ruh,
Wie er den Wanst füll' und den Bauch
Und mach' sich selbst zu einem Schlauch,
Als ob er dazu wär geboren, 


Wie dumm! Man hat sich zum Narren gemacht, mit seiner Völlerei mit den Würstchen und den Haxen und das alles auf dem Sauerkraut. Schlaflosigkeit erscheint im Licht der moralischen Literatur als gerechte Strafe. Sebastian Brant hat es hier in Straßburg gedichtet - wo sonst als über einer elsässischen Schlachtplatte?

Und jetzt noch einer für die Spaßvögel da unten: 

Ein schädlich Ding ists um den Wein,
Bei dem kann niemand weise sein,
Wer darin Freud und Lust nachtrachtet.
Ein trunkner Mensch niemandes achtet
Und weiß nicht Maß noch recht Bescheid.
Das sollte wohl reichen, unweises Gesindel. Merkt euch das und geht nach Hause. Leise!

 

Kasten

Fazit: Es empfiehlt sich, das Kammerzell in der kühlen Jahreszeit aufzusuchen: Die Jugendlichen frieren und bleiben drinnen, und das schwere elsässische Fleisch- und Wurstessen ist in der Kälte und Nässe ohnehin bekömmlicher.

 

Adresse:

Maison Kammerzell

16, place de la Cathédrale

67 000 Strasbourg

tel: 03 88 32 42 14

fax:03 88 23 0392

info@maison-kammerzell.com

www@maison-kammerzell.com