Rendsburg

Laufsteg für die Schönheiten der Meere

(FAZ 9.7.2009)

 

Rendsburg am Nord-Ostsee-Kanal ist eine Stadt von durchaus possierlicher Beschaulichkeit. Vor Jahrhunderten gewann der unscheinbare Ort Bedeutung als schwer befestigte dänische Garnison. Der alte Paradeplatz ist immer noch das Zentrum der Stadt. Um das weit gespannte Rund liegen die ehemals militärisch genutzten Gebäude der Unterkünfte und Arsenale, die immer noch in imperialer Pracht erstrahlen. Aber ihr Charakter hat sich zu einem bürgerlichen Selbstverständnis verschoben, weil sie heute entweder privat oder kommunal belebt werden.

Strahlenförmig gehen vom Paradeplatz die Straßen aus, die einst zu den vorgelagerten Bastionen führten. Sie sind benannt nach dänischen Adelstiteln (Prinzessin-, Kronprinzenstraße) und – soviel Sinn für Geschmack hatten die dänischen Offiziere dann doch – nach Tischdekorationen (Rosen- , Tulipanstraße). In der Folge des Krieges 1864 verlor Dänemark Rendsburg, ein Gedenkstein erinnert an die erste Salve des Krieges. Das alles ist Geschichte, heute schon fast Folklore, wenn man sieht, wie in Dänemark zu Gedenktagen kostümierte Schlachtenbummler fröhlich die großen Kämpfe nachstellen.

Rendsburg ist zwischen Kiel und Brunsbüttel die einzige größere Stadt am Nord-Ostsee-Kanal. Der durchschneidet Schleswig-Holstein nahezu hundert Kilometer lang von der Elbemündung im Westen bis zur Kieler Förde im Osten. Kanäle gibt es jede Menge, aber in Deutschland ist dieser Kanal einzigartig, weil auf ihm imposante, hoch aufragende Ozeanfahrer schwimmen und keine flachen, konturlosen, wenn auch irgendwie nützlichen Binnenschiffe. Da lohnt doch das Hinsehen ganz anders, wenn man sich vorstellen kann, dieser Autotransporter kommt aus Emden und fährt bis nach Litauen, und jener Frachter kommt aus Russland und will nach Italien.

Man könnte behaupten, der Kanal beginne in Brunsbüttel, aber viel mehr spricht für Kiel, denn Kiel hatte den Kriegshafen, in dem das Deutsche Reich seit 1871 seine Marine stationierte. Außerdem hatten schon früher hier die Dänen den Eiderkanal gegraben, der in historischer Hinsicht ein verkürzter Vorläufer des Nord-Ostsee-Kanals ist.

Dem Bau des NOK waren wirtschaftliche und militärische Überlegungen vorausgegangen. Bismarck wollte eine schnelle Verbindung zwischen den Meeren, um die Marine zügig verlegen zu können. Die Existenzberechtigung des NOK, der im internationalen Schifffahrts-Englisch „Kiel Canal“ heißt, liegt nämlich darin, dass er den Umweg über Skagen im Norden erspart – gute 24 Stunden Laufzeit.

Mitten im Land kann man seitdem maritime Momente erleben. Der Gastanker, der Containerfrachter, der Schüttguttransporter - alle sind sie auf großer Fahrt, von weit her nach weit weg. Besonders im Sommer, wenn die eleganten, weißen Kreuzfahrtschiffe durch den Kanal laufen, säumen die Schaulustigen die Ufer. In Rendsburg findet ein kleines Volksfest statt mit Musik, Fahnenschwenken und Wunderkerzenabbrennen, wenn einer der leuchtenden, hochhaushohen Kreuzfahrer in langsamer Fahrt die Stadt passiert. Vor allem die Anlieger, deren Häuser am Kanal keine hundert Meter von der Reling entfernt sind, können keine Durchfahrt auslassen.

Frau Erich-Hansen erzählt, sobald ihr dreijähriger Sohn im Wohnzimmer den Urlaubsriesen kommen sieht, springt er auf und ruft laut: „Traumschiff!“

Dann hält er sich mit beiden Händchen ganz fest die Ohren zu. Denn jetzt kommen die Presslufthörner zum Einsatz, mit denen die Zuschauer, Enthusiasten, afficionados, Anwohner und Fahrradtouristen am Ufer des Kanals das schwimmende Hotel begrüßen. Diese Tröten kann eigentlich nur ein betrunkener Fußballfan im Stadion ertragen, für ein nüchternes Kleinkind auf dem Balkon sind sie wie Folter. Trotzdem macht es allen Spaß, denn auch für die Alteingesessenen sind diese Schiffe ein Symbol von Fernweh und Weiter  Welt. Und solche Gefühle verlöschen nie.

Damit niemand seinen Traum verpasst, wird alljährlich eine aktuelle Liste der Kreuzfahrer mit den Ein- und Auslaufzeiten der Kanaldurchfahrt veröffentlicht. Das sind die Programmhefte für die Fanclubs entlang des 100 km langen Laufstegs für die Schönheiten der Meere.

Das Land um Rendsburg ist flach, mit Wiesen, Dörfern und kleinen Wäldern, akzentuiert von so spektakulären Erscheinungen wie Stacheldrahtzäunen und Entwässerungsgräben. Hoffnungslos urbane Beobachter sprechen dann verständnislos von „Schläfrig-Holstein“, aber solche Menschen wissen eben die Ruhe nicht zu schätzen. Und den Genuss des langsamen Geschehens.

Man steht in einer Biegung des Kanals. Aus Richtung Brunsbüttel schiebt sich eben ein Containerfrachter ins Bild. Wird groß. Und immer größer. Wirklich groß! Und da kommen einem die beliebten Anekdoten von den notorisch betrunkenen russischen Kapitänen in den Sinn, die mit 2,8 Promille Wodka im Kopf versuchen, Kurs zu halten. Irgendeinen.

Vor wenigen Jahren, so erzählen Einheimische, sei in der Tat einmal ausgerechnet ein russischer Frachter in die Böschung gefahren, habe sich auf die Seite gelegt und mehrere Container verloren. Was in der Folge zu einem Überangebot an chinesischen Konsumgütern in der Region geführt haben soll.

Beim Wasser- und Schifffahrtsamt in Kiel-Holtenau wird man aber seriös darauf hingewiesen, dass erstens auf dem Kanal nicht getrunken werde, zweitens die Schiffe ortskundige Lotsen und Kanalschiffer auf der Brücke hätten und drittens aufgrund physikalischer Eigenheiten die Fahrt in einem engen Kanal außerordentlich vertrackt sei. Manchmal klappe es dann nicht so, wie es sollte.

Wer sich das genau anschauen will, findet im Kanalmuseum an der Schleuse Kiel-Holtenau neben vielen Nachbauten von Schleusenwerken, Schifffahrtsignalen und Lagekarten auch ein Modell des Kanals, genauer: die Zufahrt zur Schleuse Holtenau. Maßstabgetreu sind die Brücken, die Schiffe und die Ketten von Dalben ausgeführt, also die Begrenzungspfählen aus gebündelten Baumstämmen, die in den Ausweichstellen dafür sorgen, dass die langsam fahrenden oder treibenden Schiffe nicht in die Böschung gedrückt werden. Dieser Teil des Kanals ist im Großen und Ganzen noch so, wie er seinerzeit gebaut worden war. Die wesentlichen Verbreitungen und Modernisierungen hat man im westlichen Teil ausgeführt.

Wilhelm II eröffnete 1895 den Kanal mit einer Fahrt auf der Yacht „Hohenzollern“ von Hamburg nach Kiel. Spruchbänder hingen über dem 92 Meter breiten Wasser. Darauf wurde gedichtet, wie das einfache Volk so dichtet:

Dort wo einst die Sense schnitt,

fährt der Kaiser in der Mitt’

auf der Hohenzollern.

Strömt herbei ihr Völkerscharen,

um es euch mit anzusehen

wie der Kaiser in der Mitt’ fährt

wo einst die Sense schnitt.

Trotz des holprigen Reims ging alles kaiserlich glatt, auch wenn Seine Allerhöchste Majestät bei dem Versuch, höchstselbst Seiner Allerhöchsten Majestät Yacht zu steuern, dieselbe um ein Haar in die Böschung gehauen hätte, lange bevor Russen im Kanal navigierten.

Bei Rendsburg überquert eine Eisenbahnbrücke den Nord-Ostsee-Kanal. Der Kanalbetreiber garantiert den Schiffen eine lichte Höhe von 42 Metern. Entsprechend hoch musste die Brücke gebaut werden und entsprechend lang mussten die Rampen sein, die die Bahn nach oben führen. Auf dem südlichen Ufer war das unproblematisch, dort steigt eine schiefe Ebene gemächlich nach oben. Auf der Rendsburger Seite war das wegen der bestehenden Bebauung nicht möglich. Also wurde ein langes, baumbestandenes Oval gezogen wie die Aschenbahn in einem Stadion, auf dem sich die Bahn nach oben windet.

Dann ist sie auf der Brücke. Die ist hoch und beeindruckend und bietet, wenn man an einer Führung teilnimmt, einen weiten Blick über Schleswig-Holstein. Aber die hohe Brücke ist nicht das Besondere. Das Besondere hängt darunter.

Die Schwebefähre über den NOK baumelt an Drahtseilen unter der Eisenbahnbrücke. Das Fahrzeug ist doppelstöckig. Auf dem Niveau des flachen Landes kommen die Fußgänger und die Fahrzeuge an Bord. Über ihnen sitzt wie auf einer Schiffsbrücke der Fährenführer, der einen weiten Blick zu beiden Seiten in den Kanal hinein hat und so abschätzt, ob er die geforderten 800 Meter Abstand zum nächsten heranrauschenden Schiff einhalten kann. Dann legt er ab.

Mit einem Hauch von Seefahrerromantik pendelt man über den Kanal. Man setzt über zum anderen Ufer, ist aber auf keinem Schiff. Schwebt in der Luft, ist aber in keinem Flugzeug. Über sich sieht man die mächtige Eisenbahnbrücke, auf der womöglich gerade ein Zug donnert, unter sich die leicht gekräuselten Wellen. Dieses Gefühl ist sehr speziell.

Weiter hinten in der Kanalweiche laufen schon die nächsten Schiffe auf. Der Nord-Ostsee-Kanal ist, man glaubt es nicht, die am stärksten befahrene künstliche Wasserstraße der Welt. Eigentlich sind hier dauernd Schiffe unterwegs.

Der beleibte Uwe Mohr flitzt aus seiner verglasten Kanzel am Nord-Ostsee-Kanal, lässt kurz die Flagge sinken zur Begrüßung der MARE und winkt begeistert wie ein kleiner Junge dem Kapitän. Aus dem Brückenhaus der MARE tritt gravitätisch der Schiffsführer und winkt ebenso so aufgeregt zurück. Man hat offensichtlich wechselseitigen Spaß an der Begegnung.

Uwe Mohr war mal Kurdirektor in mehreren Orten der Republik. Mittlerweile kümmert sich der Rentner um sein eigenes Wohlergehen und dafür ist dieser Glaspavillon unterhalb der Eisenbahnbrücke von Rendsburg ein wichtiger Platz. Er will im Ruhestand noch was zu tun haben.

Sein Glaskubus vor dem Lokal ist der Treffpunkt der Technikbegeisterten. Es scheint diese Spezies an Bahnhöfen und Flughäfen und eben auch an Kanälen zu geben – Menschen, die sich für wildfremde Schiffe und deren Besonderheiten interessieren. Bei schlechtem Wetter bevölkern sie das Lokal, bei Sonnenschein sind sie überall und Uwe Mohr hat Mühe, die Schiffe zu erkennen, die er begrüßen muss. Diejenigen, die dieser schweißnahtverliebten Leidenschaft nicht anhängen, haben Muße zu interessanten soziologischen Studien. Das Ehepaar im Café zum Beispiel: Er mit einem Fernglas, das einen Admiral zieren könnte, gespannt in fiebriger Erwartung eines Seefahrers. Sie dagegen könnte sichtlich sterben vor Langeweile. Wie gern würde sie jetzt Zeitschriften lesen, in denen Neuigkeiten oder Lügen über den dänischen Königshof verbreitet werden, aber das würde den Bestand ihrer Ehe gefährden, gerade jetzt, wo die Rente durch und das Haus abbezahlt ist. Also guckt sie dahin, wohin auch er guckt, und sieht rein gar nichts. Nicht mit den Augen und nicht mit dem Fernglas.

Menschen, die weniger statisch veranlagt sind, spazieren am Kanal entlang oder fahren sogar Fahrrad. Die ausgebaute Strecke verläuft auf dem Ufer, wenn man es eilig hat (Hinweis auf der Karte: Dienstverkehr hat Vorrang) oder mäandernd zu den landschaftlichen Schönheiten ein wenig rechts und links. Es gibt spezielle Radlerquartiere entlang der Fahrtstrecke und eine Logistikkette von Reparaturwerkstätten, die keine Wünsche offen lässt. Für den wahren Naturliebhaber bieten sich Heuherbergen an. Es wird zuverlässig von schiffsgewohnten Hanseaten berichtet, denen der morgendliche Blick aus dem Heuschober heraus auf einen Ozeanriesen ein bleibendes Erlebnis war.

Natur am Kanal: Frau Erich-Hansen erzählt die Geschichte von dem Hirschen, den sie morgens beobachtet hat. Ganz selbstbewusst ist er rechts aus dem Wald getreten, durch die schmale Eider geschwommen, ist dann ruhig über die Landzunge gewechselt, auf der ihr Haus steht und links im Nord-Ostsee-Kanal verschwunden, den er hoch erhobenen Hauptes durchquerte.

Als ob es sich so gehörte.

 

 

Alle Informationen über Traumschiffe, Fahrradrouten und Übernachtungen von:

Touristische Arbeitsgemeinschaft

Nord-Ostsee-Kanal e.V.

Schiffbrücken Galerie

24768 Rendsburg

tel. 04331 – 233 73

fax. 04331 – 696 38 45

www.nok-sh.de

 

© Paul Stänner