Oberammergau

Halbzeit in Oberammergau

 

Ich würde sagen, es ist einmalig auf der ganzen Welt, sagt der untersetzte Mann mit bayerischem Akzent. Und die untersetzte Frau findet, es sei so ergreifend. Dann erwartet sie, dass der nächste Teil noch ergreifender wird. Sie kichert dazu, was unpassend scheint, denn im zweiten Teil wird Jesus ans Kreuz geschlagen.

I thought it was wonderful, urteilt ein englischer Besucher und eine Französin sagt, alles sei fantastisch,sie habe gerade kein deutsches Wort dafür, aber doch so viel: Das muss man unbedingt einmal im Leben erleben. Das internationale Publikum ist begeistert.

 

August in Oberammergau. Die bemalten Häuser strahlen im Sonnenschein, die Bürgersteige sind gefegt, die Polizei- und Krankenwagen an den Straßensperren frisch gewaschen und poliert. Es ist Halbzeit in der Passion.

Man muss ganz offen sagen, wir sind sehr zufrieden, sagt Oberbürgermeister Arno Nunn. Es hatte sich ja anders angelassen. 80 000 Arrangements – das ist: Karte mit Übernachtung, Verpflegung, Besuch des Museums - waren zurückgegeben worden. Vor allem die starken Kontingente aus den USA sind – von der Finanzkrise gebeutelt – ausgeblieben. Die Karten hat man fast sämtlich im Einzelverkauf vertrieben, aber die Auslastung bei den Arrangements liegt lediglich  bei 78%. Das ist für die Gastronomie auch ein ganz guter Wert, sagt Nunn, aber natürlich sind es nicht die Erwartungen, die man sonst an die Passion hatte.

Seit 1634 wird in Oberammergau die Passion Christi, also die letzten fünf Tage im Leben Jesu, als großes Volkstheater inszeniert. Diese Tradition geht auf ein Gelübde zurück, das die Oberammergauer ablegten, um von der Pest verschont zu werden. Recht bald fand man zu einem Zehnjahres-Rhythmus und als im 19. Jahrhundert Reiseunternehmer die Spiele im idyllischen bayerischen Dorf entdeckten, wurde Oberammergau weltweit zu dem Passionsspielort.

Eine halbe Million Zuschauer verfolgt was 2500 Mitwirkende auf die Bühne stellen.

Im vergangenen Jahr hat Bürgermeister Arno Nunn zusammen mit dem Regisseur Christian Stückl einen Aufruf unterzeichnet, in dem die Mitwirkenden der Passionsspiele gebeten werden, sich ab Aschermittwoch die Haare – und die Männer auch den Bart – wachsen zu lassen.

So sehen sie jetzt auch aus.

Zum Beispiel Anton Preisinger, 41 Jahre alt, lange dunkelblonde Haare, sorgfältig gestutzter Bart, Gastwirt und in diesem Jahr der Hohepriester Kaiphas. Drei Anton Preisingers gibt es. Schon der Vater spielte den Gegenspieler Jesu, jetzt also der Sohn. Auch die dritte Generation ist im Spiel. Preisinger der Mittlere erzählt, sein Achtjähriger sei gerade bei der Kreuzigung mit besonderer Begeisterung dabei. Der unbefangene Besucher fürchtet, dass später, im normalen Religionsunterricht, diese Begeisterung dem Jungen wohl einen Punktabzug eintragen wird.

Aber das kommt später, noch stehen die Preisingers auf der Bühne. Natürlich, sagt Preisinger der Mittlere, wenn man das erste Mal auf der Bühnen steht und schaut in das Publikum rein, wo da fast fünftausend Leute sitzen, das ist schon ein Anblick, wo man sich denkt Puh!

Seit der Premiere ist einige Zeit vergangen, der Puh!-Faktor ist verflogen, die Darsteller gehen mit Routine in eine lange Aufführung. Es gibt da natürlich solche, sagt Preisinger , die nicht viel Text haben und denen wird’s dann manchmal langweilig und fangen dann an, ein bissel Späßchen machen und andere abzulenken, aber er in tragender Rolle könne sich diese Nachlässigkeiten nicht leisten. Da hätt ich dann immer Angst, dass ich da wirklich so einen Hänger mal hätte.         

Tobias Haseidl lebt am Rande in einem Haus, das von wildem Wein überwuchert ist. In einer Garage hat er sein Bildhaueratelier eingerichtet, der Blick geht aus dem Fenster in einen tiefen, baumbestandenen Garten. Am Ende des Horizonts leuchten schneebedeckte Berge.

Es ist schon so: Und täglich grüßt das Murmeltier, sagt der Herrgottschnitzer. Gerade eben arbeitet er an einem Jesus-Kind von der Größe einer Schachfigur. Haseidl spielt beim Orchester das Flügelhorn, ist weitestgehend unsichtbar und kann daher seine gewohnte Frisur behalten. Man kennt die ganzen Textpassagen, sagt er, und als Musiker haben sie viel freie Zeit und warten darauf, dass der, der das Wort „Vater“ nicht richtig aussprechen kann, wieder ein mal sattes „Vatta!“ über die Rampe schmettert. Das ist Zeitvertreib, weil acht Stunden sind lang, und letztlich – es sei Theater und kein Gottesdienst. Es werde aber peinlich darauf geachtet, dass niemand im Orchester eine Glasflasche mitbringt, denn die könnte scheppernd umfallen. Glasflasche mitbringen kostet fünf Euro Strafe.

Hinter der Bühne haben sich die Darsteller versammelt: Hohepriester mit lampenschirmartigen Hüten, römische Soldaten mit kurzen Haaren (manch ein später Junggeselle hat den Regisseur angefleht, einen Römer spielen zu dürfen, weil sonst für eine ganze Sommersaison die Chancen bei den Frauen perdu sind), dazu viel jüdisches Volk in einfachen Gewändern und eine ausnehmend attraktive Sünderin. Ein Mann in der Bühnenmitte hält eine Ansprache. Am Rande erläutert ein Mann aus dem Volk: Der ist der evangelische Geistliche von Oberammergau und der hält jetzt eine kleine Rede, weil er sich selbst gern reden hört. Unverkennbar ist ein katholischer Zungenschlag wahrzunehmen. Der bärtige Alte aus dem Volk hört nicht zu. Nach der Ansprache wird noch das Vaterunser gebetet, das der alte Mann als der Vaterunser  bezeichnet. Dann fängt  der Passion an.

Der Bärtige aus dem Volk ist eine Art Vorarbeiter und muss eine gewisse Menge Juden unter Kontrolle behalten. Die Bühne ist mit einer licht- und luftdurchlässigen Plastikkonstruktion überdacht. Wenn die Sonne brennt, wird es unten in Jerusalem ordentlich heiß. Dann drückt sich das Volk gern in die Schatten der Kulissen und reißt Lücken in die Inszenierung. Der bärtige Alte muss dann die Menge wieder unauffällig in die Sonne zerren.

Die meisten Zuschauer sind in einem Alter, in dem man schon Gedanken macht über den Übergang in eine bessere Welt. Das löst ein gewisses Interesse aus für den Bühnenstoff, bei dem es um die Vergebung von Sünden, um Erlösung und Auferstehung geht.

Der Zuschauerraum ist überdacht, aber der Himmel über der Bühne ist offen. Den ganzen Morgen hat es geregnet, am Nachmittag hängen immer noch schwarze Wolken über dem Tal und ein kalter Wind weht in das Theater. Nach spätestens zweieinhalb Stunden auf engen Stühlen bekommen auch die Zuschauer ein kaltes Gespür dafür, was Leiden heißt. Nur große Gefühle können die Pilger noch warm halten.

Fünfmal in der Woche strömen 4700 Besucher in den Ort: Touristen, Gläubige und Pilger. Allesamt Leute, die Geld ausgeben. Ein verführerischer Gedanke.

Der Kellner ist ein jovial wirkender, älterer Herr, der nuschelt wie einst Hans Moser in seiner Rolle als Kellner. Der Besucher hat gegessen und getrunken und bittet um die Rechnung. Ein handgeschriebener Zettel mit Bierwerbung flattert auf den Tisch, wie er als Beleg gar nicht mehr zulässig ist. Der Besucher bezahlt, rechnet spaßeshalber nach, findet die Summe um einen unauffälligen Euro überhöht und stellt eine kleine Hochrechnung an: Bei den vielen gutgläubigen Pilgern dürfte der Moser-Darsteller gern 30 bis 40 Euro einstreichen. Es ist Passionszeit, da kann auch der Gast mal bluten.

Clever, denkt der Besucher, aber nicht clever genug, und bittet um einen elektronischen Kassenbeleg. Der nuschelnde Kellner bringt den Ausdruck und mit ihm kommentarlos der Euro, den er sich aufs Trinkgeld geschlagen hat.        

Das Passionsjahr ist sicherlich ein Ausnahmejahr für uns, sagt Anton Preisinger in seiner Rolle als Hotelier. Im Passionsjahr, sagt Preisinger, komme gut was rein, aber das reiche nicht über die nächsten zehn Jahre. Da müssen schon die liebliche Landschaft, die imposante Zugspitze und das schwülstige Schloss Neuschwanstein als Attraktionen die Gäste anlocken. Allein vom Leiden Christi kann man nicht leben. Und steigerungsfähig ist das Unternehmen Passionsspiele auch nicht, denn mit einer Platzausnutzung im Theater von nahezu 100% sind die Besucherzahlen kaum noch zu erhöhen. Aber für dieses Jahr ist noch Luft nach oben, sagt OB Nunn:

Es gibt für jeden Spieltag nach wie vor noch Karten, von daher einfach dranbleiben, immer wieder versuchen bei uns auf der Internetseite www.passionsspiele2010.de

 

© Paul Stänner