Machado de Assis

Das Gesetz der Fenster
Der brasilianische Klassiker Machado de Assis

rbb - 01.10.2013

 

Regie

Ich  würde Gitarrenmusik von Hector Villa Lobos empfehlen, aber vermutlich gibt es Musikkenner mit einem breiteren Spektrum an Kenntnissen, die andere Vorschläge machen können.

 

Sprecher

Er war ein Fuchs. Machado de Assis, [Maschado de Assís], 1839 bis 1908. Ein ausgebuffter Fuchs. Man konnte ihm nichts vormachen. Und weil man ihm nichts vormachen konnte, weil er alle Masken und Spielchen durchschaute, war er ein Melancholiker und Pessimist.

 

Regie

Musik frei, dann unterlegen

 

Sprecher

Und ein Mann von hintergründigem Humor. Deshalb beginnt sein Roman "Die nachträglichen Erinnerungen des Bras Cubas" so: 

 

Regie

Musik frei, dann wieder unterlegen und langsam weg. 

 

Zitator

Wenn es auch üblich ist, mit der Geburt anzufangen, so haben mich doch zwei Überlegungen dazu gebracht, einen anderen Weg einzuschlagen: Einmal bin ich im Grunde kein toter Autor, sondern ein verstorbener, zum anderen wird nun alles, was ich schreibe, eigenartiger, origineller. Nachdem das klargestellt ist, verschied ich also um zwei Uhr nachmittags an einem Freitag im August  1869, und zwar in meinem schönen Landhaus Catumby. Ich war ungefähr vierundsechzig stramme und erfolgreiche Jahre alt, war Junggeselle, besaß rund dreihunderttausend Milreis und wurde von elf Freunden zum Friedhof begleitet.

 

Regie

Gitarren-Akzent kurz

 

Sprecherin

Der Roman "Die nachträglichen Erinnerungen des Bras Cubas" beginnt mit dem Tod des Erzählers, der voller Verachtung sein Leben hinter sich lässt. Die Geschichte selbst aber, die der verstorbene Bras Cubas erzählt, fängt mit seiner Geburt an, die zu den kühnsten Erwartungen berechtigt - jedenfalls den Erzähler:

 

Zitator

An diesem Tage sprosste am Baum der Cubas eine entzückende Blüte. Ich wurde geboren. Nachdem ich erst gebadet und gewickelt war, war ich bald der Held des ganzen Hauses. 

 

Sprecherin

Eine gesunde Portion Selbstgefälligkeit und Eitelkeit gehören zur Erbmasse, mit der Bras Cubas diese Welt betreten hat und die ihn, bis zu seiner Beerdigung, zu der - wie erwähnt - ganze elf Freunde gekommen waren, begleiten wird. 

 

Zitator

Elf Freunde! Dabei waren keine Briefe und Anzeigen versandt worden. Und es kam noch hinzu, dass es regnete, einen kleinen, beharrlichen Fisselregen, so traurig und beharrlich, dass einer der Getreuen der letzten Stunde sich veranlasst fühlte, in die am Rande des Grabes gehaltene Rede folgende geistreiche Bemerkung einzuflechten: "Verehrte Trauergemeinde! Sie, die ihn gekannt haben, können mit mir sagen, dass die Natur zu weinen scheint über den unersetzlichen Verlust einer er wunderbarsten Persönlichkeiten, die je die Menschheit geziert haben. Diese düstere Atmosphäre, diese Tropfen vom Himmel, diese dunklen Wolken...all das ist ein erhabener Lobpreis für unseren erlauchten Dahingegangenen."

 

Sprecherin

Tut er sich leid, weil er nun tot ist? Bedauert er, dass nur elf Freunde zu seiner Beerdigung gekommen sind? Verflucht er die, die nicht gekommen sind? Nein, nüchtern und illusionslos erinnert sich der Verstorbene seiner Beerdigung, denkt aber gern an die Schmeicheleien zurück, die ihm ein namenloser Trauergast in die feuchte Grube nachrief.

 

Regie

Gitarre unterlegen

 

Sprecher

Joaquim Maria Machado de Assis, [Schoakím Maria Maschado de Assís] der Autor der "Nachträglichen Erinnerungen", wurde 1839 in ärmlichen Verhältnissen geboren. Ihm gelang ein außergewöhnlicher Aufstieg. Seine Biografie führte den Autodidakten über die Stationen Druckerlehrling und Buchhändler in die schreibenden Berufe: Journalist, Kritiker, Lyriker, Dramatiker und Romancier. Nebenbei schaffte er noch den Aufstieg zum Generaldirektor im kaiserlichen Verkehrsministerium. Als Machado 1908 starb, hinterließ er neben zweihundert Erzählungen und neun großen Romanen auch eine fast unübersehbare Anzahl von Feuilletons, Gesellschaftsreportagen und Rezensionen. Er muss geschrieben haben wie ein Wüterich. Seine bedeutendste Ehrung erhielt er in der lebenslangen Präsidentschaft der von ihm mitbegründeten Academia Brasileira de Letras, der Brasilianischen Akademie der Literatur. Nach ihm ist der wichtigste brasilianische Literaturpreis benannt.

 

Regie

Gitarrenakzent als Schlusseffekt, dann frei

 

Sprecherin

Zurück zu den Erinnerungen des verstorbenen Bras Cubas. Den Gepflogenheiten seines Standes folgend suchte sich der Held der Geschichte in jugendlichem Alter eine Geliebte, die den romantischen Schwärmer ausnahm wie eine Weihnachtsgans.

 

Zitator

Marcela liebte mich fünfzehn Monate lang und für elftausend Milréis. Als mein Vater dahinterkam, war er entsetzt, da seiner Meinung nach eine derartige Verschwendung die Grenzen jugendlichen Leichtsinns weit überschritt.

 

Sprecherin

Der naive Jüngling wird von seinem Vater ungeachtet seines Liebeskummers nach Europa verfrachtet, wo Cubas lustlos und ohne bleibende Eindrücke ein Studium absolviert, durch Italien reist und sich insgesamt langweilt. Dann wird er dringend zurück gerufen, weil seine Mutter im Sterben liegt. Mit der schneidenden Schärfe eines Beobachters, der seine Zeilen von der anderen Seite des Grabes schickt, rezensiert Bras Cubas den Auftritt der Trauernden wie ein Theaterstück. Ihr Wehklagen erscheint ihm wie ein Gemeinplatz.

 

Zitator

Mein Vater umarmte mich weinend. "Mit unserer Mutter geht es zu Ende", sagte er mir. Tatsächlich war es nicht mehr der Rheumatismus, der sie tötete, sondern ein Magenkrebs. Die Unglückliche litt entsetzlich, denn der Krebs verhält sich gegenüber dem einzelnen und seinem Rang völlig gleichgültig. Wenn er nagt; dann nagt er; nagen ist seine Art.

 

Sprecherin

Aus dem Grab, den menschlichen Zusammenhängen weit entrückt, nimmt Bras Cubas achselzuckend mit fast naturwissenschaftlicher Nüchternheit die Mechanismen zur Kenntnis, die die Welt bewegen: - der Krebs nagt, weil das sein Existenzzweck ist. Welche Schmerzen er dabei verursacht, ist ihm völlig gleichgültig. 

 

Zitator

Der Todeskampf war lange und grausam, von einer kalten, kleinlichen, pedantischen Grausamkeit, dass sich mir das Herz zusammenkrampfte.

 

Sprecherin

Der selbstverliebte, hypochondrische, melancholische  Bras Cubas - sich selbst wenigstens billigt er Empfindungen zu, die keine Gemeinplätze sind. Seine Trauer, sein Mitleid sind echt. 

 

Sprecher

Eine Radierung zeichnet Machados Porträt mit einem langen Schädel, einem sorgfältig gestutzten Vollbart und einem Kneifer mit ovalen, randlosen Gläsern auf der Nase. Er wirkt ein bisschen gravitätisch, der feiner Psychologe, der die Stärken und Schwächen seiner Umgebung genau erfasste. Er gestaltete als zentrale Figur seines Romans einen überempfindlichen Egozentriker, der sich selbst als den einzigen wahren Gradmesser für die Zumutungen des Lebens empfand. Somit hatte der Autor eine gleichsam überempfindliche Mess-Sonde in die Gesellschaft seiner Epoche gesenkt - und wahrscheinlich sogar in die menschliche Gesellschaft überhaupt, wie der - bis heute - anhaltende Erfolg seiner Bücher belegt.

 

Regie

Gitarreneffekt als break

 

Sprecherin

Zu den beherrschenden Charakterzügen des Bras Cubas gehört eine schlitzohrige Faulheit. Ruhm und Anerkennung sind etwas Schönes, sofern sie mühelos erreicht werden. Gelegentlich macht er sich als Schriftsteller bemerkbar, einmal gründet er sogar eine Zeitung, die er aber wenig später wieder eingehen lässt. Arbeit, Mühsal, Verpflichtungen, das ist nichts für ihn. So auch in der Liebe. Statt zu heiraten und eine Familie zu gründen, zieht er es vor, eine verheiratete Frau zur Geliebten zu nehmen, ein kleines Haus als Liebesnest einzurichten und dort leger seine Liebschaft zu pflegen. Die Hüterin dieses Hauses ist Dona Placida, eine verarmte Bedienstete, die aus der flüchtigen Affäre eines Küsters mit ihrer Mutter hervorgegangen ist. Was folgte, war ein Leben in bitterer Armut. Ein Leben wozu? Cubas sinniert:

 

Zitator

Es ist anzunehmen, dass Dona Placida bei der Geburt noch nicht gesprochen hat. Hätte sie es tun können, dann hätte sie wohl zu den Urhebern ihres Daseins gesagt: "Da bin ich. Zu welchem Zweck habt ihr mich gerufen?" Und der Küster und die Küsterin hätten ihr wahrscheinlich geantwortet: "Wir haben dich gerufen, damit du dir die Finger an den Töpfen und die Augen an der Stickerei verdirbst, schlecht oder gar nicht isst, dich mühselig hierhin und dahin schleppst, krank und wieder gesund wirst, um dann nochmal krank und wieder gesund zu werden, ... bis du eines Tages auf der Gasse oder im Hospital endest - zu diesem Zweck haben wir dich in einem Augenblick der Neigung gerufen.

 

Sprecherin

In der Tat eine Weltsicht, die einen melancholisch machen kann. Die arme Dona Placida ist nun die Hüterin von Bras Cubas Liebesnest, was ihr schwere moralische Bedenken bereitet. Cubas schenkt ihr eine größere Summe, die verhindert, dass sie auf der Gasse oder in einem Hospital enden wird, und somit ist Dona Placidas Bedenken geholfen. Aber auch die Bedenken Bras Cubas sind aufgehoben: 

Ehebruch auf der einen Seite - Spende für die Armen auf der anderen Seite.

 

Zitator

So entdeckte ich, Bras Cubas, ein erhabenes Gesetz: das des Äquivalents der Fenster. Ich stellte fest, dass man ein geschlossenes Fenster dadurch ausgleichen kann, dass man ein anderes aufmacht, so dass das Gewissen dauernd die frische Luft der Moral schöpfen kann. 

 

Sprecherin

Der Lehrsatz von den zwei Fenstern: Diese listige Theorie ermöglichst es dem selbstverliebten Bras Cubas einerseits die Grausamkeit der Welt anzuerkennen und andererseits sich in dieser grausamen Welt so zu bewegen, dass er möglichst sorglos auf seine Kosten kommt, ohne die schmückende menschliche Eigenschaft der Empfindsamkeit abzulegen. 

 

Sprecher

Der Roman des Bras Cubas beschäftigt sich mit den bitteren Dingen der menschlichen Existenz. Dennoch schafft es Machado, dass die Leser sich mit Freude von seinem gewitzten, durchtriebenen Bras Cubas, der das Leben mit einer Prise Gerissenheit lebt und gleichzeitig mit philosophischer Distanz beobachtet, durch den Roman führen lassen. Machado zieht den Leser auf die Seite seines charmanten, nichtsnutzigen Helden, der seine Erinnerungen - wie er sagt - 

 

Zitator

mit der Feder der Ausgelassenheit und der Tinte der Melancholie

Sprecher

geschrieben hat. 

 

Sprecherin

Vielleicht hat Machado de Assis dieses Konzept der zwei Fenster von der christlichen Buße abgeleitet, in der man durch gute Werke eigene Verfehlungen nicht ungeschehen, aber weniger bedeutsam machen kann. Dieses Verfahren hilft dabei, den Ausgleich zu schaffen zwischen der Moral und dem Egoismus, den beherrschenden Triebkräften in dieser Welt. Machado schildert die Welt in einem fast barocken Totentanz, als er Bras Cubas kurz vor dessen Tod eine Halluzination erleben lässt.

 

Regie

Gitarre unterlegen, an den Zitat-Stellen, die durch Pünktchen gekennzeichnet sind ... bitte die Musik für einen Moment frei stehen lassen, um deutlich zu machen, dass jetzt ein Sprung im Text vorgenommen wird.

 

Zitator

Ich blickte den Hang hinunter und betrachtete eine geraume Zeit ...etwas Eigenartiges. ...Die Jahrhunderte zogen in einem Wirbel vorbei und trotzdem sah ich alles, was da vor mir geschah. Plagen und Wonnen. Da kamen die verschlingende Begier, der flammende Zorn, der geifernde Neid, Spaten und Feder, Schweiß und Ehrgeiz, Hunger, Eitelkeit, Trauer, Reichtum, Liebe - und alle schüttelten den Menschen wie eine Kuhglocke und rissen ihn in Fetzen. Und der Mensch, gegeißelt und noch immer aufsässig, floh vor dem Verhängnis und rannte hinter einer schemenhaften, scheuen Gestalt her, die war zusammengestückelt, ein Stück unfassbar, ein Stück undenkbar, zusammengenäht mit Luftmaschen, mit der Nadel der Einbildung, und diese Gestalt - keine geringere als das Schemen des Glücks - floh entweder ständig oder ließ sich am Rockzipfel erhaschen, und der Mensch presste sie an sich und dann lachte sie, als ein Hohn und verflog, wie eine Täuschung.

 

Sprecherin

Der Zug der Menschheitsgeschichte als eine Prozession des Jammers - und das Glück nur ein trügerisches Gewebe aus Luftmaschen - bitterer kann man die Welt nicht beschreiben. 

 

Regie

Gitarre frei und weg

 

Sprecher

Es gibt eine erstaunliche Parallele: Mark Twain, der Humorist und Moralist, der 1910, also zwei Jahre nach Machado starb - Mark Twain als Zeitgenosse hat in seinem letzten Roman "Der geheimnisvolle Fremde" einen ähnlichen Zug der Jahrhunderte  geschildert. Hier ist es nicht die Natur oder Pandora, die den Beobachter leitet, sondern Satan selbst. Und Satan ist im oft sarkastischen Werk von Mark Twain eine positive Figur.

 

Musik

Orgel unterlegen, mit den Auslassungen ... wie oben.

 

Zitator

Dann war alles still, und wir sahen, wie Abel in seinem Blute lag und sein Leben aushauchte, während Kain über ihm stand und rachgierig und ohne Reue auf ihn herabblickte. Das Bild verschwand, und ihm folgte eine lange Reihe von unbekannten Kriegen, Morden und Massakern. Dann kam die Sintflut mit der auf sturmgepeitschten Wassern schaukelnden Arche. Dann erlebten wir Sodom und Gomorrha und "den Versuch, dort zwei, drei anständige Menschen zu entdecken", wie Satan sich ausdrückte. Dann kamen die Kriege der Hebräer...Dann gab es ägyptische Kriege, griechische Kriege, römische Kriege...Als nächstes wurde das Christentum geboren und wir sahen Christentum und Zivilisation Hand in Hand durch die Jahrhunderte marschieren, "hinter sich Hungersnot und Tod und Verwüstung und andere Zeichen menschlichen Fortschritts zurücklassend", wie Satan kommentierte.

 

Musik

Orgel frei und weg

 

Sprecher

Es ist möglich, dass Machado von Twain wusste, aber unwahrscheinlich, dass Twain Machado gelesen hatte. Trotzdem hatten in einer Epoche zwei unterschiedliche, aber geistesverwandte  Autoren dieselbe Vision:  die Geschichte der Menschheit als ein nicht enden wollender Zug des Elends. Beide waren sie als leichte, unterhaltsame, die Menschen ihrer Zeit spitz wie Karikaturen zeichnende Unterhaltungsautoren gestartet, beide endeten sich mit düsteren Bilanzen. "Dieses verfluchte Menschengeschlecht" resümierte Mark Twain. Machado de Assis dürfte ihm nicht widersprochen haben. Sein Bras Cubas zieht seinen persönlichen Schlußstrich:

 

Zitator

Summiert man alles, so könnte jemand auf die Idee kommen, dass weder ein Defizit noch ein Überschuss vorhanden sei und dass ich demzufolge quitt war mit dem Leben, als ich die Welt verließ. Aber das stimmt nicht, denn als ich hier auf der anderen Seite des Mysteriums angelangt war, hatte ich einen geringen Saldo zu verzeichnen: Ich hatte keine Kinder und übermittelte keinem Wesen das Vermächtnis unseres Elends.

 

Regie

Gitarre

 

Sprecher

Ungeachtet der düsteren Bilanz: Nur wenigen Autoren gelingt es wie Machado, in ihren Romanen ironische Weltverachtung und heitere Gelassenheit, Eitelkeit und Selbstironie, Humor, Satire und  Melancholie zu einer so unterhaltsamen wie tiefsinnigen Lektüre zu verbinden. Allein die Charakterisierung einer Person als "gierig wie das Grab" ist ein brillantes Bonmot, ein Satz wie 

 

Zitator

Sie wirkte niedergeschlagen und hatte sich ein Tuch umgebunden.

 

 

Sprecher

ist von überwältigendem Sarkasmus. 

 

Regie

Gitarre frei und weg

 

Sprecherin 

Machado de Assis war in eine aufregende Zeit hineingeboren worden. 1822 war Brasilien vom portugiesischen Mutterland unabhängig geworden. Es war ein prosperierendes Land, das mit dem Kaffee von riesigen Plantagen und dem begehrten Brasil-Holz enormes Einkommen erwirtschaftete. Sogar Gold war gefunden worden. Mitte des 19. Jahrhunderts brach die Moderne in Brasilien ein - Telegrafenstationen wurden eingerichtet, Eisenbahnlinien gezogen, Druckereien schossen aus dem Boden, die internationalen Schiffsverbindungen wurden immer dichter. 

 

Zitator

Es gibt keinen Zweifel, dass die Uhren seit einigen Jahren sehr viel schneller gehen.

Sprecher

schrieb Machado in einem seiner Zeitungsartikel. Im Zusammenspiel mit den zivilisierten Nationen störte nur noch die Sklaverei, die erst 1831 auf ausländischen Druck hin verboten wurde - folgenlos allerdings. Noch bis 1888 dauerte es, bis sie endgültig abgeschafft wurde. 

 

Sprecher

Für Machado selbst blieb dies nicht ohne Auswirkung - als Sohn eines Mulatten, also von dunkler Hautfarbe, hatte er zeitlebens gegen die Ressentiments der rein weißen Herrenschicht zu kämpfen. In dem jungen, aufstrebenden Nationalstaat sah Machado es als die Aufgabe des Schriftstellers, die Menschen in dieser Periode der Umwälzungen zu beschreiben und sich ein Bild zu machen. Programmatisch formulierte er:

 

Zitator

Vor allem muss man von einem Schriftsteller verlangen, dass er einen gewissen Sinn für die Menschen seiner Zeit und seines Land hat. 

 

Sprecherin

Dieser "gewisse Sinn für die Menschen seiner Zeit" - wie faszinierend es Machado  gelungen ist, in die Seelen seiner Mitmenschen einzudringen, zeigt ein Experiment aus den 70iger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Sechs brasilianische Autorinnen und Autoren, wohl die bekanntesten ihrer Generation, nahmen sich eine Kurzgeschichte von Machado vor und schrieben sie um - jeder nach seiner Art. Sie heißt "Kurz vor Mitternacht" und in ihr entspinnt sich eine zarte, mögliche und gleichzeitig undenkbare Liebessituation. Diese Vorlage nahmen Nélida Pi~non, Osman Lins, Antonio Callado und andere zum Anreiz, ihre Erfahrungen und ihre Fantasie einzubringen. Die Figuren verschoben sich, die Aspekte verschoben sich, die Gefühle wurden jeweils anders empfunden und bewertet - aber die Situation und das psychologische Spiel von Machados Text blieb weiterhin modern.

 

Regie

Gitarrenbreak

 

Sprecher

Machado de Assis war in vielen handwerklichen Details ein sehr moderner Schriftsteller - bis hin zu dem Kunstgriff, Figuren aus dem einem Roman auch in einem anderen auftreten zu lassen. Quincas Borba, der in den "Nachgelassenen Erinnerungen des Bras Cubas" eine kurze Nebenrolle spielen durfte, bekommt zehn Jahre nach der Bras-Cubas-Geschichte seinen eigenen Roman.

 

Sprecherin

Die Handlung setzt ein wenige Wochen vor dem Tod des Quincas Borba, den der Leser bereits im Bras Cubas-Roman miterlebt hat. Borba lebt von einer Erbschaft einem kleinen Nest in der Provinz. Sein Haushalt besteht lediglich aus seinem Diener und Pfleger Rubião und einem Hund, der ebenfalls Quincas Borba heißt.

 

Sprecher

Borba erläutert seinem Pfleger und unfreiwilligem Schüler Rubião mit einer Anekdote die Lehre des Humanitismus, welche Egoismus und Kampf als die beherrschenden Prinzipien des menschlichen Seins deutet. Offenbar hatte dieses Thema Machado nie ruhen lassen.

 

Regie

aggressive Musik unterlegen

 

Zitator

Der Fall hatte sich folgendermaßen zugetragen: Der Besitzer der Kutsche stand auf dem Vorplatz und hatte Hunger, großen Hunger, weil es schon spät war und er früh und wenig gefrühstückt hatte. Von dort aus konnte er dem Kutscher ein Zeichen gebe; dieser peitschte auf die Maultiere ein, weil er seinen Herrn abholen wollte. Die Kutsche stieß mitten auf ihrem Weg auf ein Hindernis und riss es zu Boden; dieses Hindernis war meine Großmutter. Der erste Akt dieser Abfolge diente dem Überleben der Gattung; Humanitas hatte Hunger. Wenn anstelle meiner Großmutter eine Maus oder ein Hund dort gestanden hätte, wäre meine Großmutter nicht zu Tode gekommen, aber das Faktum bliebe sich gleich; Humanitas muss essen. Wenn es anstelle einer Maus oder eines Hundes ein Dichter gewesen wäre, Byron oder Gonçalves Dias, wäre der Fall ein anderer, weil er Stoff für viele Nachrufe geliefert hätte; aber der Hintergrund bliebe sich immer noch gleich. Das Weltall ist noch nicht zum Stillstand gekommen, weil ihm einige im Kopf eines berühmten oder auch unbekannten Mannes im Aufkeimen begriffene, vorzeitig verstorbene Gedichte gefehlt hätten; aber Humanitas (und das ist vor allem anderen wichtig), Humanitas muss essen.

 

Sprecher

Borba formuliert in seiner Philosophie der Humanitas, der Lehre vom Wesen des Menschen, eine verschärfte, noch prägnantere Darstellung des menschlichen Elends. Dass alles Handeln nach dem Konzept der Evolution nur dem Erhalt der Spezies dient, ist eine auch heute noch beliebte Theorie. Sie behauptet, einzig das Überleben der Gattung sei der von jeglicher Moral oder Rücksichtnahme befreite Daseinszweck der menschlichen Rasse. Zumindest das Überleben einiger auserwählter Exemplare dieser Gattung...

 

Sprecherin

Rubião, Quincas Borbas Pfleger und Freund, erbt nach dessen Tod die gesamte, reiche Hinterlassenschaft. Unter der Bedingung, dass er stets Quincas Borba, den gleichnamigen Hund des Verstorbenen, bei sich halten muss. Rubião, das naive Landei, zieht in die Hauptstadt. Sein Geld eröffnet ihm Wege in die gehobene Gesellschaft, oder genauer: Es sind die anderen, die ihm die Türen öffnen, während sie auf sein Geld hoffen. Rubião wird abgenagt wie ein Hundeknochen.

 

Sprecher

Der Autor hat seinen Figuren ein festgefügtes Denk- und Verhaltensmuster mitgegeben, das ihre Art zu handeln bestimmt. Rubião, der sich in eine aussichtslose, kostspielige Liebe verrannt hat, kann nicht über seinen Schatten springen und sich der zerstörerischen Kraft seiner fixen Idee entziehen. Sofia, die Angebetete, ist nach Stand und Erziehung eine kokette Frau, die die glänzenden Augen ihrer Bewunderer braucht - und ihr Geld. Der vermeintliche Freund Palha ist ein Geschäftsmann, der gelernt hat, mit Gewinn und Verlust zu rechnen, die unkontrollierbare Verschwendungssucht seines Freundes Rubião sind für ihn nur ein Risiko, also zieht er sich zurück. So ist es schwer, die Figuren dieses Romans schuldig zu sprechen.  Gemäß den Prinzipien der Natur - oder des Humanitismus - lässt Machado deterministisch jeden nach seiner Art handeln - nach seinem Egoismus, der ihm das Überleben ermöglicht.

 

Sprecherin

Rubião kehrt mit seinem Hund Quincas  Borba zurück in die Provinz. Heruntergekommen, zerlumpt und ohne Nahrung, angewiesen auf die Pflege von Mitleidigen, stirbt er. 

 

Sprecher

Die Zeitschrift "A Estacão", in der der Roman als Fortsetzungsgeschichte abgedruckt wurde, war ein Blatt, dass sich speziell an die Leser der so genannten gebildeten Stände wandte. Auf dieses Publikum hatte der Autor Rücksicht zu nehmen. Die Schilderung der Mode nimmt einen breiten Rahmen ein, die Intrigen in den herrschenden Kreisen werden ausführlich erörtert, es ist eine Liebesgeschichte eingeflochten, die nur der Unterhaltung dient. Machado wählte die Themen und Motive, die seine Leserschaft gern behandelt sehen wollte, und in dieser gefälligen Verpackung schmuggelte er als Konterbande seine Gesellschaftskritik. Er wollte die Menschen seiner Zeit nicht nur beschreiben, sondern auch richten, sie in ihrem Kern als böse charakterisieren. Es zeigte sich, dass auch die Angehörigen der gehobenen Stände nichts anderes waren als die Jaguare, in denen die Natur im Delirium des Bras Cubas gesprochen hatte. Sie rochen nur besser. 

 

Regie

Gitarre unterlegen

 

Zitator

Ich wollte hier eigentlich von Quincas Borbas Ende erzählen, der ebenfalls erkrankte, ständig winselte und drei Tage später tot auf der Straße lag... Nur zu, beweine die eben Verstorbenen, wenn du dafür Tränen hast! Wenn dir nach Gelächter zumute ist, dann lache! Es kommt auf das Gleiche hinaus.

 

Sprecher

Und der bestürzte Leser fragt sich am Ende: Ist es wirklich so?

 

Regie

Gitarre endet