Lothar Gall: Wilhelm von Humboldt. Ein Preuße von Welt
Propyläen Verlag, Berlin 2011. 443 Seiten

Deutschlandfunk - Andruck 2012

 

Zitator

Mit wie vielen Schwierigkeiten ich bei dem allen zu kämpfen habe,…

 

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schrieb Wilhelm von Humboldt an seine Frau,

 

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… wie die Gelehrten – die unbändigste und am schwersten zu befriedigende Menschenklasse – mit ihren sich ewig durchkreuzenden Interessen, ihrer Eifersucht, ihrem Neid, ihren einseitigen Ansichten, wo jeder meint, dass nur sein Fach Unterstützung und Beförderung verdiene, mich umlagern. … davon hast Du, teures Kind, keinen Begriff.

 

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Dem Mann muss sein Job richtig Spaß gemacht haben! Wilhelm von Humboldt – nach ihm und seinem Bruder Alexander ist die Berliner Humboldt-Universität benannt - gilt als der größte Bildungsreformer in der Deutschen Geschichte – vom Drucker Guttenberg vielleicht abgesehen. Lothar Gall hat diesem Mann eine Biografie gewidmet und dabei einigermaßen Erstaunliches zutage gefördert.

 

ZitatorIch lasse der Begierde ungescheut die Zügel schiessen und erkenne in dem Genuss, selbst in dem, den viele ausschweifend nennen würden, eine grosse und wohltätig fruchtbare Kraft.

 

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Mit anderen Worten: Der Bildungsplaner war ein großer Frauenfreund, hielt wenig von der Treue in der Liebe und verlangte dies auch nicht von seiner späteren Frau. Bei allem Respekt vor seinem Gespür für Fairness – seine unpreußisch lockere Moral dürfte ihn kaum zum Vorbild für heutige Schüler und Studenten machen. Die wiederum dürften ihn für seine unpreußische Lockerheit lieben. Ein Womanizer war Wilhelm von Humboldt – und ein großer, bekennender Egozentriker, wie Lothar Gall ihn beschreibt.

 

Zitator

Diese Welt- und Lebensanschauung wurzelte in der tiefen Überzeugung, dass der Mensch die Welt nur durch die Brille seiner eigenen Individualität sehen und erkennen könne und dass daher die Konzentration auf und die lebenslange Beschäftigung mit dieser Individualität die eigentliche Aufgabe und das eigentliche Ziel des Lebens sein müsse.

 

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Lothar Gall, der schon durch Biografien über Bismarck, aber auch über Rathenau und Krupp und das „Bürgertum in Deutschland“ ein Star seiner Branche geworden ist, hat sich nun einigermaßen folgerichtig von Humboldt zugewandt, denn dessen Bildungsverständnis, fundiert durch den Glauben an die individuelle Verwirklichung, ist eine der Grundsäulen des Bürgertums und der bürgerlichen Entwicklung in Deutschland. 

Gall schildert die Jugend der beiden Brüder Alexander und Wilhelm und ihre Ausbildung durch Hauslehrer, die der Aufklärung verpflichtet waren. Dann verschwindet Alexander aus dem Blickfeld und Wilhelm beherrscht die Szene. Zu ihrem Glück – man kann das durchaus so zynisch sagen – starb ihre ungeliebte Mutter zu einer Zeit, in der die jungen Männer auf eigenen Füßen stehen wollten – und dies auch durchaus komfortabel konnten, weil die Mutter ihnen ein beachtliches Vermögen hinterlassen hatte. Man kann sich ausmalen, dass Wilhelms weit gefasster Bildungsbegriff durchaus auch von der Tatsache geformt wurde, dass er ein unabhängiger Mann war.

Zunächst tritt der Berufsanfänger in den Staatsdienst und lässt sich alsbald wieder beurlauben. Er spendiert sich mit seiner jungen Familie vier Jahre in Paris, wo er viele bedeutende Zeitgenossen kennen lernt. Zwischendurch reist er nach Spanien und beginnt wissenschaftliche Studien der baskischen Sprache, Studien, die er liegen lässt und Jahrzehnte später wieder aufnimmt. Wie er überhaupt mehr Pläne hat, als er verwirklichen kann. Er wird Botschafter in Rom, der Hauptstadt des kulturellen Altertums. Auch hier führt er einen großen Salon und bewirtet die kulturelle Elite. 

Dann ändern sich die Zeiten. 1806 erleidet Preußen eine vernichtende Niederlage gegen Napoleon. Humboldt hat diese Geschehnisse von Rom aus miterfolgt, es drängt ihn nach Berlin. An Hardenberg schreibt er:

 

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Ich war niemals ehrgeizig oder interessiert und zufrieden mit dem Posten in dem Lande, das ich bewohne und das ich liebe und habe weder gesucht noch gewünscht, in eine andere Lage zu kommen, aber jetzt ist es mir peinlich, hier müßig zu sein und nichts für das bedrängte Vaterland tun zu können.

 

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Durch wissenschaftliche, auch staatswissenschaftliche Arbeiten, vor allem aber durch seinen Lebens- und Bildungsweg glaubte von Humboldt, er sei der richtige Mann, um der Erneuerung Preußens, die nach der dramatischen Niederlage gegen Frankreich dringend erforderlich war, im Bildungssektor den Weg weisen zu können. Am 10. Februar 1809 wurde er zum Geheimen Staatsrat und Direktor der Sektion für Kultus und Unterricht im Ministerium des Inneren ernannt. Humboldt plädiert für eine dreistufige Bildungseinrichtung aus Elementarschule, Gymnasium und Universität. Vor allem aber – so Gall – sollte aus der Bildung ein neuer Typ Untertan, eher ein Staatsbürger, hervorgehen. Dieses Ideal war nicht von Dauer – Gall erläutert:

 

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Gerade dies aber, den Schulunterricht auf eine allgemeine, auf den selbständig denkenden – und dann auch entsprechend handelnden – Menschen ausgerichtete Bildung zu orientieren, widersprach den Tendenzen, die dann mit der Restaurationszeit nach 1815/19 zu den herrschenden wurden.

 

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Sein persönliches Glanzstück blieb die Einrichtung der Berliner Universität. Für Humboldt bestand der Zweck der so genannten „höheren wissenschaftlichen Anstalten“ darin, ein vom Staat losgelöster Sammelpunkt von Menschen zu sein - 

 

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die äussere Muße oder inneres Streben zur Wissenschaft und Forschung hinführt.

 

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Entscheidend sind die Motive: „äussere Muße“ und „inneres Streben“. Wie weit sind unsere Universitäten von diesen Idealen entfernt! Lothar Gall schreibt:

 

ZitatorDie gesamte Berufungspolitik Humboldts und seiner Sektion stand unter der Devise, dass alles auf die persönliche Qualifikation des ins Auge gefassten Kandidaten und der von ihm verfolgten Forschungsziele ankomme. „Man beruft eben tüchtige Männer und lässt das Ganze allmählich sich ankandieren“, so hat Humboldt das lakonisch formuliert.

 

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Humboldt gelang es, große Namen wie (Friedrich) Schleiermacher, (Friedrich Carl von) Savigny, (Johann Gottlieb) Fichte und (Barthold Georg)  Niebuhr zu gewinnen, kein leichtes Unterfangen, denn, wie anfangs erwähnt, die großen Herren waren wissenschaftliche Diven. 

Lothar Gall schildert den Reformer als einen Mann großer und zukunftsweisender Ideen, der allerdings – schlechter Taktiker, der er war – oft genug an Einwänden und Vorbehalten und Intrigen, die andere viel besser beherrschten als er, scheiterte. Was – auch das gehört zu Humboldts Vita – sich jemand gut erlauben kann, der familiäres Vermögen im Hintergrund hat. 

 Humboldt als Reformer, Humboldt als Diplomat, der entscheidende Markierungen setzte für die Gestaltung des nach-napoleonischen Europa -  er zeigt sich als eine vielschichtige, oft sperrige Persönlichkeit, die gleichwohl mehr in Gang gesetzt hat, als man zu ihren Lebzeiten anerkennen mochte. Gall konzentriert sich auf die Ideengeschichte seines Helden, das macht das Buch gelegentlich etwas spröde, wenn Satzungetüme von professoraler Umständlichkeit den Lesefluss hemmen. 

Gall ist ein Forscher, der untersucht – wie es der Theaterkritiker Alfred Kerr einmal drastisch formuliert hat – auf welchem Mist welche Blume wachsen kann. Anders als andere Autoren rückt Gall die gewissermaßen dialektische Konstellation in den Vordergrund und zeigt, dass von den Triebkräften eines ausgewiesen egozentrischen Charakters (also eben das, was Erziehung eigentlich verhindern sollte) die Grundlage eines Erziehungs- und Bildungssystems geschaffen wurde, das der modernen, demokratischen Gesellschaft immer noch gute Dienste leistet.