Harpers Ferry

Körper und Geist

Wo John Brown kämpfte

 

 

Es geht steil hinunter zu Harpers Ferry, der Fuß ist immer auf der Bremse. Der Ort, wo früher Mr. Harper eine Fähre betrieb, liegt in Virginia in einem tief eingeschnittenen Tal. Die Berghänge sind steil und dicht bewachsen, die Landschaft ist wild und romantisch zugleich. In der Luft kreisen große Vögel, die man gern für Raubvögel halten würde, aber es sind bloß Truthahngeier. 

Hier vereinigen sich der Shenandoah und der Potomac zum großen Potomac, der nach Washington fließt. Der Potomac ist flach und steinig, der Flusslauf ist übersät von Felsen, die wie Trittsteine im quirligen Wasser liegen. Harpers Ferry ist eine Station auf dem Appalachian Trail, von hier hat man noch 2000 Meilen in südlicher Richtung bis Georgia oder in die andere Richtung 2200 Meilen bis nach Maine hinauf. Zwischen die langen Schenkel der beiden Flüsse eingeklemmt, ist Harpers Ferry ein possierliches kleines Örtchen, das aus der Zeit gefallen ist.

Ungefähr die Hälfte der Stadt liegt im National Park und ist Museum. Die Häuser aus den flachem Bruchsteinplatten der umliegenden Berge oder dunkelroten Ziegeln sind zu Museen umfunktioniert. Hier sind die Wohn- und Lebenssituationen der Menschen nachgestellt, die früher einmal hier gelebt haben.

Da ist das große Untergeschoß mit dem Laden des Schneiders, der seine Kleider großflächig drapiert hat. Da ist die Werkstatt des Uhrmachers mit Dutzenden kleiner Instrumente. Da ist das Wachsmuseum, aus dessen Fenster ein bärtiger Mann starrt, das Gewehr in der Hand, die Augen weit aufgerissen in der Erregung des Kampfes.

Nach einer Weile fällt dem Besucher auf, dass der ganze Ort wie unter einem Grauschleier liegt. Es gibt an den Hauswänden, Türen und Fenstern nur gedeckte Farben, nichts glänzt, alles ist matt. Entweder gilt das als Museumskultur oder man kannte im damaligen Amerika keine Lacke.

Frederick Roeder war ein ausgewanderter Deutscher, der in Harpers Ferry eine Konditorei und Backstube betrieb und trotz sieben Kindern  wohlhabend wurde. Seine Bäckerladen und sein Wohnhaus sind erhalten und zeigen den Handel und das Leben in der Zeit kurz vor dem Amerikanischen Bürgerkrieg 1861. Der offene Kamin ist bereits stillgelegt und durch einen gusseisernen Ofen ersetzt worden, der effizienter war und weniger Dreck produzierte. Unglücklicherweise war der Anhänger der Unionsstaaten Harpers Ferrys erster ziviler Toter im Bürgerkrieg. Noch unglücklicherweise war es die verirrte Kugel eines Unionssoldaten, die den Arglosen niederstreckte. Er schaffte es noch auf allen Vieren bis in sein Haus, wo er seiner Verwundung erlag.

Beklagenswerterweise ging in Harpers Ferry mit Roeder auch die Kunst des Backens zugrunde. Nichts ist geblieben, nicht einmal der Anspruch, ein gutes Brötchen zu produzieren.

Im Secret Six Tavern (das die Erinnerung an sechs anonyme Geldgeber von John Brown wach halten will) bestand das West Virginia Sandwich aus verbranntem Kochschinken mit einer Scheibe Cheddar-Käse, der gelb war, aber grau schmeckte. Das Brot darunter hätte den Bäcker Roeder dazu gebracht, jeden zufälligen Soldaten, ob aus der Union oder den Konföderierten, um eine Kugel anzuflehen.

Besser ist es, der Tourist bringt sich sein Mittagessen mit.

Am Nebentisch unterhielten sich locals: Sie tranken Bier und versicherten einander, sie würden sieben Tage die Woche arbeiten. Dann wechselten sie das Thema und verglichen die Kalibergrößen ihrer automatics. Vermutlich lebt in diesen einfachen Menschen der Geist des Ortes weiter, der einst die Größe der Stadt ausmachte. In den Jahren vor und während des

Bürgerkriegs beherbergte Harpers Ferry eine riesige Waffenindustrie, die jährlich 10 000 Musketen produzierte, dazu Kleinwaffen und Munition. Da ist es verständlich, dass man hier beim Bier über Waffen plaudert  – aber im Ernst: Wer ist begeistert von einem 30-Schuss-Magazin für 9mm-Patronen?

Am 16. Oktober 1859 erschien gegen 20 Uhr John Brown mit 18 Männern in Harpers Ferry. Brown war ein militanter Gegner der Sklaverei, seiner Zeit weit voraus, man könnte sagen linksradikal.

Er besetzte zwei Brücken, Waffenfabriken und Arsenale. Er hatte Tausende von Gewehren und reichlich Munition in seiner Gewalt, ein perfekter Auftakt für eine Revolution. Noch in der Nacht setzte er zwei Sklavenhalter fest und befreite im Gegenzug ihre Produktivkräfte, die vermutlich überrascht und verwirrt reagierten.

Bei Sonnenaufgang wird der Stadt klar, dass so eine Art Sklavenaufstand ausgebrochen sein muss. Die Bürger schlagen zurück, es kommt zum Kampf. John Brown und seine kleine Streitmacht werden umzingelt, alle Fluchtwege abgeschnitten. Es gibt Tote. John Brown schickt zweimal Unterhändler mit der weißen Flagge. Der erste wird gefangen genommen, die nächsten beiden gleich erschossen. Sklavenbefreiung und Aufruf zum Aufstand ist kein Kinderspiel. Noch mehr Männer werden getötet. Dann erscheint Col. Lee mit 90 Marinesoldaten und bereitet dem Spuk ein Ende. John Brown wird verhaftet, vor Gericht gestellt und wegen Hochverrats gehängt. Henry David Thoreau schrieb über ihn: Er ist nicht länger Old Brown, er ist ein Engel des Lichts.

Der Tourist an historischer Stätte rechnet hoch in die Gegenwart. Wie würde das Ministerium für homeland security auf einen solchen Terroranschlag reagieren? Würde es Mr. Brown überhaupt noch bis vor einen Richter schaffen?

Eineinhalb Jahre nach Browns fatalem Handstreich bricht der Amerikanische Bürgerkrieg aus. John Browns Leiche verrottet da schon in seinem Grab, wie es in dem berühmten Lied heißt, but his soul goes marching on - aber sein Geist marschiert weiter. Im Bürgerkrieg 1861 – 65 sterben mehr amerikanische Soldaten als im ersten und zweiten Weltkrieg zusammen. Col. Lee wird General und einer der populärsten Verlierer der Kriegsgeschichte werden. Die Sklaven werden befreit, die Industriegesellschaft hat gewonnen.

In Harpers Ferry marschieren ganze Schulklassen wie John Browns Geist. Schülerinnen und Schüler tragen musketenförmige Holzknüppel und die dunkelblauen Mützen der Unionstruppen (der Sieger schreibt auch die Schulbücher). Sie folgen zwei pädagogischen Darstellern in der Uniform der Nordstaatenarmee mitsamt Muskete. Sie paradieren in Marschkolonne zum Trommelklang und bekommen Applaus von ihren Klassenkameraden, die unter einem Zeltdach das Picknick vorbereiten. Sie lernen Geschichte. Staub wirbelt auf unter ihren Füßen.

Unten am Fluss steht das Feuerwehrhaus, in das sich Brown zum letzen Gefecht zurückgezogen hatte. Das rote Ziegelhaus heißt Browns Fort, war aber wohl der schlechteste Ort für eine Festung. Eine der Wände bestand lediglich aus drei großen Portalen, die man brauchte, um die Feuerspritzen herausziehen leicht zu können. Binnen kurzem hatten Lees Männer die Tore eingedrückt.

Der Schuppen wurde bereits vier Mal versetzt, zuletzt 1968, weil er dem Bahnausbau oder anderen Projekten im Weg stand. An seinem ursprünglichen Standort steht heute ein schmaler Obelisk.

John Browns Anschlag gilt heute als das Vorspiel zur Sklavenbefreiung, der kleine Feuerwehrschuppen ist eine Ikone der amerikanischen Geschichte.

Der Tourist inmitten der Museumsstadt blickt auf die umliegenden Berge, denkt an den Appalachian Trail und daran, dass er von hier noch mehr Geschichte erlaufen könnte.

Später einmal. Er quält sich die Straße hoch zu seinem Wagen.

 

Kasten:

Harpers Ferry

National Historic Park

P.O. Box 65

Harpers Ferry WV 25425

www.nps.gov/hafe

 

© Paul Stänner