Canterbury

Das Mittelalter riecht nach altem Käse

(FAZ 27.3.2008)

 

Canterbury ist der Mittelpunkt der Grafschaft Kent, also: The Garden of England. Der Mittelpunkt von Canterbury wiederum ist seine Kathedrale, das schlank und steil aufragende Gotteshaus, das verbunden ist mit der Ermordung des Erzbischofs Thomas Becket und den Geschichten der Canterbury Tales.

Ein dunkles Haus liegt mysteriös in der Altstadt von Canterbury. Es hat keine Fenster, nur einen Ein- und Ausgang. Drinnen lauern im Halbdunkel finstere Gestalten, der Fußboden knarrt, über allem liegt der Geruch von vergammeltem Käse – vielleicht war das der Duft des Mittelalters. Es sind die Canterbury Tales als Figurenkabinett. Über infrarot-gesteuerte Kopfhörer hört man Geoffrey Chaucers Geschichten aus dem 14. Jahrhundert als eine Art szenischer Lesung, mit verteilten Rollen und zweckdienlichen Geräuschen. Eine Kuh zum Beispiel macht Muuh.

Die Pilger erzählen einander diese lockeren Geschichten in Vers und Prosa auf dem Weg von London nach Canterbury, wo sie das Grab des Martyrers Thomas Becket besuchen wollen. Sie handeln vom Leben der unterschiedlichen Volksschichten und den Beschwernissen, aber auch den Lustbarkeiten des Alltags. Vielleicht nicht von ungefähr – bedenkt man das Reiseziel – geht es in vielen Erzählungen um die Schlechtigkeiten, die im Namen der Religion verübt werden.

Das verwirrende Labyrinth der Schauplätze, die niedrigen Decken, die stickige Luft und selektive Beleuchtung der Displays mögen helfen, ein tv-verwöhntes Publikum in die literarische Spur zu setzen.

Die Canterbury Tales haben die Stadt literarisch berühmt gemacht. Aber eine Geschichte hatte sie schon vorher – der Ort ist im Ursprung eine römische Siedlung. Die ersten Spuren des Imperiums findet der Tourist bereits auf seiner Straßenkarte. Es sind schnurgerade, gestrichelte Linien quer durch das südliche Kent mit der Bezeichnung Roman Road. Diese Leute hätten wirklich gewusst, wie man Autobahnen baut.  Mehr von den frühen Besatzern findet der Besucher im Roman Museum. Im Kellergeschoss eines Hauses in der Butchery Lane liegt, auf dem Straßenniveau des 2. Jahrhunderts n. Ch., der Fußboden eines römischen Hauses. Entdeckt wurde die Villa bei den Aufräumarbeiten nach einem Angriff der deutschen Luftwaffe 1942. Die brutale Form der Archäologie.

 

 

Neben Nachbauten und Exponaten aus dem römischen Alltagsleben zeigt das Museum ein großflächiges Mosaik auf erstaunlich unebenem Boden. Die Ornamente zeigen in variierenden Brauntönen eine Figur, die aussieht wie die übereinander gelegten Blüten von zwei unterschiedlichen Blumen. Für Liebhaber von Mosaiken ein reizvoller Anblick.

In den folgenden Jahrhunderten erlebte Canterbury eine wechselvolle Geschichte. Einigen Belagerern konnte es widerstehen, von anderen wurde es niedergeworfen und ausgeraubt, und fast 100 Jahre lang war der Ort ganz und gar aufgegeben worden. Auf dem Grundriss der alten römischen Mauern wurden gewaltige Festungsanlagen errichtet - aus faustgroßen, glasartigen Feuersteinen, die in dieser Region gefunden werden.

Innerhalb dieser Mauern ist die Stadt alt und kleinteilig. Die Straßen sind schmal und verwinkelt, für Autofahrer eine echte Herausforderung wegen der Menge an Touristen, die die Straßen selbstverständlich als ihr Territorium beanspruchen. Für den Kontinentaleuropäer bieten diese Engpässe durchaus Vorteile: Er achtet darauf, dass er keine Fußgänger überfährt, dafür löst sich das Problem mit dem Linksverkehr von ganz allein. Es gibt nur eine Spur.

Die Fahrt zum Cathedral Gate Hotel musste ich zweimal antreten, weil ich im Gewirr des Mittelalters zunächst das Haus nicht finden konnte. Aber wenn man sich einmal durch die Spinnweb-Topographie der Altstadt hindurch gewunden hat, wächst das Ego gewaltig und beim zweiten Anlauf ist es ganz einfach.

Das Hotel befindet sich mehr oder weniger im Eingangstor zum Kathedralenhof. Das Portal ist eine dreigeschossige Anlage, die sich reichverziert über einem großen Rundbogen erhebt und von zwei Zinnen gekrönt wird, die in Höhe und Durchmesser aussehen wie zwei Schornsteine, die man als Zinnen verkleiden wollte.

Das Zentrum des wappenübersäten Torbaus wird beherrscht von der Plastik des segnenden Christus, eine Arbeit des deutschen Künstlers Klaus Ringwald. Sie wurde 1992 aufgestellt und füllt eine Nische, die über 350 Jahre leer geblieben war, nachdem Cromwells Bilderstürmer 1642 den ursprünglichen Christus zerstört hatten.

Rechts davon liegt weiß gestrichen mit kleingerippten Fenstern eine Filiale einer amerikanischen  Cafehaus-Kette. Daneben führt hinter einer unscheinbaren Tür eine steile, knarrende Treppe ins Obergeschoss. Das Hotel liegt in dem Gürtel von historischen Gebäuden, der die Kathedrale in weitem Abstand umschließt. Er markiert die historische Grenze zwischen dem klerikalen und städtischen Rechtsbereich.

Claire Harrigan ist Irin und kam auf einer Urlaubsreise nach Canterbury. Sie sah das Hotel und verliebte sich auf der Stelle: „Ich bin die Treppe hoch und habe ihn gefragt: Können Sie mir einen Job hier geben?“ Sie leitet es heute und hat, ihrer Liebe folgend, in der Geschichte gewühlt. Sie erzählt, dass 1437 an dieser Stelle ein Hospiz für Pilger errichtet wurde, zunächst unter dem Name „Sonne Hotel“. Der Name wanderte später unter der neuenglischen Schreibweise Sun Inn auf ein anderes Haus über, der alte Namensträger wurde in Cathedral Gate Hotel umbenannt. Weil bei Errichtung des Hauses des damalige König Heinrich sich verbat, dass man die Balken aus seinen Wäldern holte, suchte man, wo man fand. Alte Schiffe wurden geplündert, erzählt Claire, „also sind einige der Balken, die wir hier haben, noch älter als 1438. Das ist doch faszinierend!“

Die Geschichte der An- und Umbauten ist im Cathedral Gate Hotel unübersehbar: Immer wieder geht es rauf und runter, um Ecken herum, die zu neuen Ecken führen. Ein Fenster schaut auf eine Innentreppe, die sinnlos vor einer Wand endet, während woanders eine Tür ins Freie führt – ein Schritt zu weit, und es geht abwärts. In manchen Räumen gibt es eine Schlagseite von 15 Grad, man wird seekrank auf festem Boden. Der Besucher erhält einen interessanten Einblick in die Bauweise von Fachwerkhäusern, wo ein ambitionierter Praktiker immer was absägen oder annageln kann.

Mein Zimmer ist klein, niedrig und heißt  „Joy“. Joy ist schon über 300 Jahre alt und verdankt seinen Namen der Erleichterung der Pilger, wenn sie nach langem, mühseligem, gefahrvollem Anmarsch das Objekt ihrer Begierde vor sich sahen. Joy’s Fenster hat bleigefasste Scheiben, die nicht mehr als schokoladentafel groß sind. Was pro Fenster zwanzig Scheiblein ergibt. Zu klein und zu zahlreich, um sie zu putzen, ich habe Verständnis dafür. Es stehen zwei Stühle in der Kammer und ein karger Tisch mit Spalten und Rissen. In der einen Ecke ist mit roten Klinkern etwas übermauert, was mal ein Kamin gewesen sein dürfte, in der anderen steht ein Waschtisch auf einem Rohrgestänge.

Joys Blick geht auf die Kathedrale, auf gotische Fenster, deren Gitterwerk drei Geschosse hoch sind und von dachtragenden Stützpfeilern getrennt werden. Nur noch halb erkennbar ist ein reich geschmückter Seiteneingang, der flankiert und überspannt ist von Nischen mit Heiligenfiguren. Zahlreiche filigrane gotische Türmchen schmücken die Statuen. Nachts, wenn die Kathedrale angestrahlt wird, bietet der Kontrast zwischen den warm angeleuchteten Flächen und den tiefen Schatten, die die heiligen Gestalten werfen, ein Schauspiel, das den Betrachter erschaudern lässt. Vor allem, wenn er daran denkt, dass in dieser Kirche ein berühmter Mord geschah.

Joy bietet mir keine Dusche, aber eine Wanne. Mein Bad an diesem Abend dürfte ungefähr dem Wasser– und Hygieneverbrauch von 50 – 60 gottesfürchtigen Pilgern entsprochen haben, die zum Grab des Heiligen Becket wallfahrten, weil sie sich hier Erlösung von schweren Krankheiten erhofften. Die meisten davon vermutlich verursacht durch mangelhafte Hygiene.

Die Causa Becket ist eine besondere Sache. Bekanntlich wurde Becket von Anhängern König Heinrich II. ermordet, weil er sich seiner Verhaftung widersetzte. Die Verhaftung: Immerhin gab es das Gerücht, der Erzbischof sei dabei, eine Armee gegen seinen König zusammenzustellen. Die Vorgeschichte zeigt einen ganz banalen Konkurrenzkampf zweier Alphatiere. Becket hatte als Karrierejurist jahrelang Heinrich bei seinem Aufstieg begleitet, wurde von ihm zum Kanzler ernannt und half ihm, die Dominanz der Krone über die Kirche zu vergrößern. Das ging solange gut, bis Heinrich seinen Kumpan zum Erzbischof von Canterbury ernannte. Becket, ehedem ein rüder Politiker und verschwenderischer Yuppie, wurde zu einem fundamentalistischen Gotteskrieger, ging in Sack und Asche und ließ sich geißeln für seine vergangenen Sünden. Plötzlich standen sich die beiden als Köpfe konkurrierender Systeme gegenüber. Ende einer Freundschaft.

Jeder versuchte seinen Einfluss zu vergrößern auf Kosten des anderen. Dabei ging es z.B. darum, ob  straffällige Kleriker (gern auch mal Mörder) dem (mildtätigen) geistlichen oder dem (drakonischen) weltlichen Recht zu unterstellen waren.

Noch jahrhundertelang stand das Cathedral Gate Hotel genau auf der heiklen Scheidelinie zwischen den unterschiedlich komfortabeln Strafandrohungen.

Becket betrieb den Machtkampf so verbissen und eigensinnig wie sein Ex-Freund. An diesem Punkt war es nur nahe liegend, dass Heinrich irgendwann lauthals fragte, ob ihn nicht jemand von diesem aufrührerischen Priester befreien könne. Wie es einem eben so rausrutscht.

Und da war es auch nur nahe liegend, dass ein paar umstehende Ritter diesen Wunsch als etwas begriffen, was man in unseren Tagen  ein „non-paper“ nennen würde: Der König hat etwas bestellt, was er nicht bestellt hat.

1174 zogen sie los. Es gab einen Disput im Dom. Die Ritter wollten ihr Opfer nach draußen zerren, Becket wehrte sich. Die Ritter schlugen ihn in der Kirche tot.

Das hatte Heinrich nicht gewollt. Seine Reue kam zu spät, er hätte seine Zunge besser hüten müssen. Wenige Jahre danach wurde Becket zum Heiligen erhoben, Canterbury wurde europäischer Wallfahrtsort und schwamm fortan in Geld. Lohn der blutigen Tat.

1935 schildert T.S. Eliot seine Version des Vorfalls in seinem Drama „Mord im Dom“ – das war nicht gut für Heinrich.

Die Pilger brachten der Stadt ein Vermögen, bis 1538 ein anderer Heinrich (der VIII., der mit dem großen Verschleiß an Ehefrauen) alle Klöster und Abteien schloss und das Grab von Thomas Becket plünderte – was immerhin 20 Wagenladungen voll Gold und Silber erbrachte. Beckets Gebeine wurden verbrannt.

„Was früher die Pilger, sind heute die Touristen – die Stadt lebt davon“, sagt Abdulrazak Gurnah. Gurnah ist Romancier und Professor an der University of Kent, die 1962 malerisch auf den Hügeln vor der Stadt gegründet wurde. Wir haben uns in The Goods Shed getroffen, einem ehemaliger Schuppen zur Reparatur von Zügen und Waggons. Im Sommer steht ein riesiges Portal an der Flanke weit offen, um die Wärme einzulassen. Im unteren Teil ist ein Farmers Market eingerichtet, der  Produkte aus der Region verkauft. Auf einer Empore im hinteren Teil befindet sich ein Café und Restaurant, dessen Küche sehr gelobt wird.

 „Canterbury“, sagt Gurnah, „ist eine kleine und wohlhabende Stadt, aber jetzt ist sie mehr denn je ein Touristenort. Und das hat mich berührt. Es sind immer viele Menschen hierher gekommen, die nicht hier geboren sind.“

Als Flüchtling von der Insel Sansibar ist die Migration in der modernen Welt sein persönliches und literarisches Thema. Warum verlasse ich meine Heimat, wie richte ich mich an meinem neuen Ort ein, welche Verbindungen bleiben zu dem Ort meiner Herkunft? Und - entsteht nicht durch Geschichte der Migration eine Welt, in der jeder mit jemandem verwandt ist? Canterbury ist für solche Überlegungen ein guter Standort. „Ich glaube, es kommen immer noch Pilger, aber die meisten Besucher, das müssen mindestens eine Million Touristen im Jahr sein, kommen her, um die Kathedrale zu sehen“ 

Gurnah hat abends noch Freunde zu Besuch, also geht er eine Etage tiefer auf dem Bauernmarkt einkaufen. Die Käseverkäuferin muss erst aus ihrer Lektüre befreit werden, es ist der letzte Harry Potter, sie liest ihn schon zum zweiten Mal. Der Käse ist aus der Region, kräftig, würzig, es gibt ein gutes Stück für Gurnah, dann kehrt die Verkäuferin in ihr Buch zurück.

Am Marlowe Theatre in der Altstadt steht die Staute des wohl bedeutendsten Sohnes der Stadt (oder war es Becket, der ermordete Bischof?) Christopher Marlowe wurde 1564 in Canterbury geboren, einer der großen englischen Dramatiker, dessen Name immer fällt, wenn von Shakespeare die Rede ist. Die Statue für Marlowe trägt im Sockel auf jeder Seite eine Kartusche mit einer metallenen Statue darin, die einen herausragenden Schauspieler in einer Marlowe-Rolle würdigt. Da steht z.B. ein Henry Irving als Tamburlaine the Great in schwerer mittelalterlicher Rüstung mit Brustpanzer. Eine andere Figur zeigt einen Königdarsteller, eine weitere den Interpreten des Dr. Faustus mit mittelalterlichen Barett und dem kurzen Beinkleid über den Strumpfhosen. Obenauf steht als Krönung ein barbusiges junges Mädchen mit einer Leier aus Widderhörner im Arm, offensichtlich die schöne Dichtkunst selbst, der sich alle anderen unterzuordnen haben. Um ehrlich zu sein, man betrachtet lieber die grazile Schöne als den zwielichtigen Faustus. Christopher Marlowe, der wohl in geheimdienstliche Machenschaften verwickelt war, starb eines ungeklärten, jedenfalls unnatürlichen Todes in einer Kneipe. Ende der Dichtkunst.

Die Literatur jedoch blühte weiterhin in Canterbury.

Charles Dickens lebte in der Nähe und kam gern in die Stadt. Er wohnte im Sun Inn, das in der heutigen Altstadt gelegen ist und immer noch ein Hotel. Canterbury stellte einige Schauplätze für seinen David Copperfield und dessen Begegnung mit Uriah Heep.

Joseph Conrad verbrachte seine letzten Lebensjahre in Canterbury und ist auch hier begraben unter seinem ursprünglichen Namen Korzeniowski. Liebhaber des polnisch-englischen Schriftstellers finden Bücher und persönliche Gegenstände wie seine Schreibmaschine im Canterbury Heritage Museum (da gibt es auch eine Abteilung für Rupert Bear, falls man eher für gezeichnete Bären  mit gelb karierten Hosen als Joseph Conrad schwärmt).

William Somerset Maugham, 1874 in Paris in der Britischen Botschaft geboren, kam nach dem frühen Tod seiner Eltern zu einem Onkel nach Kent, (ein versteinerter Vikar, keine Hilfe) und besuchte die Kings School in Canterbury. Die kaltherzige Pädagogik der damaligen Zeit hätte vermutlich auch ein Kind, das kein Waisenkind war, schwer beschädigt. Maugham begann zu stottern. Er studierte er Medizin in London, entschied sich aber doch für die Literatur und wurde einer der erfolgreichsten englischen Autoren – und mit seinem polysexuellen Privatleben einer der umstrittensten. Wie Marlowe war auch Maugham in geheimdienstliche Aktivitäten verwickelt – das scheint zur Genetik der Region zu gehören. Nach seinem Tod 1965 vermachte er der Kings School seine private Buchsammlung (man neigt im Alter dazu, die Schulzeit zu verklären) und gewann so einen Platz, an dem seine Asche ruhen konnte: Unter einem Rosenbusch unter dem Bibliotheksfenster der Kings School. Die Schule ist privat und wird von einem Wachmann beschützt, der in literarischen Fragen gänzlich  unsichtig ist: Man kommt nicht rein. Der einzige Zugang zur Asche führt über eine Besichtigung der Kathedrale und des umliegenden Hofes, am toten Becket vorbei.

Virginia Wolf schrieb: „Es gibt auf der ganzen Welt keinen schöneren Ort als Canterbury – und das sage ich mit der Hand auf dem Herzen, während ich hier in Florenz sitze und auch schon Venedig gesehen habe.“

Da kannte sie The Old Weaver’s House, das romantische alte Weberhaus an der Brücke über den Stour, und kannte sie das Eastbridge Hospital, in dem früher arme Pilger in dichten Reihen auf dem Fußboden schliefen. Ganz sicher hätte sich ihr Herz für  The Moat Tea Rooms erwärmt, aber die kamen erst später. Die Teestuben liegen in einem Fachwerkhaus aus dem 15. Jahrhundert, schwarz die Balken und weiß die Fächerungen, das ganze Gebäude wie eine kunstvolle Graphik. Wäre es nur eine Graphik, müsste man sich nicht diese Sorgen um die Standhaftigkeit machen, denn die Balken sind in nahezu allen denkbaren Winkeln miteinander verkantet - außer dem rechten. Die Fassade wölbt sich heraus mit einem Gitterwerk von kleinen Fenstern, die es erlauben, rechts und links auf die Straße zu schauen. Das Obergeschoss kragt ein wenig über die Grundlinie  hinaus und wird getragen von zwei grotesken Wasserspeiern, die aussehen, als hätten sie eine illegale Droge nicht gut vertragen.

Im Untergeschoss ist nur der Eingangsbereich mit dem Kuchentresen. Schwer, daran vorbeizukommen. Die Teestuben im Obergeschoss erreicht man über eine gewundene Stiege, die Wände sind aus schwarzen Hölzern, die Flächen dazwischen rot lackiert.

Eine mütterlich wirkende, kugelige Kellnerin muss für jede Tasse und jeden vergessenen Löffel die Stufen rauf und runter, hat aber immer noch Muße für einen kurzen Plausch. Es gibt warmen Hefekuchen mit Rosinen, dazu Butter und rote Marmelade, dann ein Assam-Tee mit Milch und verschiedenen Sorten Zucker. Ein Genuss, kaum zu steigern. Die Tea Rooms sind einfach ein wunderbarer Ort, um der Welt abhanden zu kommen, ein Refugium, um sich in aller Ruhe wieder ins Lot zu stellen.

Nach der Stadt gönnt man sich eine gemächliche Fahrt durch das Umland. Kent, das sind malerische Dörfer und Bäume, die über schmalen Wegen grüne Tunnel bilden. Kleine Haltebuchten, weil die Straßen nur für einen Wagen breit genug sind. Großflächige Wiesen und Felder in vielfältigen Grüntönen, dazwischen Hecken, um den Wind zu stoppen, so dass die Landschaft in grün, braun und gelb erscheint wie eine patchwork-Decke mit dicken Nähten.

Hinter den hohen Hecken liegen kleine, weiße Manors, diese ein wenig von der Straße zurückgesetzten Landhäuser, bewachsen mit Efeu, meist sehr schön restauriert und mit Autos aus deutscher Produktion davor. Gehobene Mittelklasse, Pendler aus London.

Die Straße führt in ein sanftes Tal mit Wiesen, Kornfeldern und ein paar Kühen, die sich über ein Auto wundern. Ein weißer, offener Sportwagen, ein MG aus den 1960er Jahren, röhrt durch die Kurven. Es ist, als erlebe man einen Zeitsprung über vierzig Jahre zurück. Die beiden lachenden Männer im Roadster sind sich dessen bewusst - sie spielen James Bond im James-Bond-Land. Und da liegt es: The Duck!

In The Duck, einem einfachen Pub, in dem außer Ruhe nicht viel los ist, hat Ian Fleming an seinem Roman „Man lebt nur zweimal“ geschrieben  - woran eine Plakette an der Hauswand erinnert. Wie konnte er nur für Bond, James Bond! so blutrüstige Geschichten  erfinden in einer Umgebung, die so fern ist von den Schrecken der Welt wie man es sich nur wünschen kann. Allerdings lebte wohl seine Tante in der Nähe, aber dieses Detail sollen Biografen bewerten.

Zwei ältere Damen und ihr Begleiter, auch er schon im Rentenalter, sind die einzigen Gäste in dieser Mittagstunde, vielleicht angelockt von der reichen Auswahl an typisch englischen Baguettes. Damals, in den 60er Jahren, erzählt die eine der beiden Ladies, war The Duck noch anders. Da drüben war nur eine kleine Bar gewesen und sie hatten nur einen von diesen Stühlen hier (die sehen für mich ein bisschen aus wie geklaute Kirchenbänke). Am Fenster, wo wir gerade sitzen, sei der Salon für die Damen gewesen und Fleming sei mit den anderen Männern nach hinten zur Bar ans Kaminfeuer gegangen.

Der Begleiter der beiden Damen hört zum ersten Mal davon, dass der Autor hier gewesen sei, vermutet aber spontan, Fleming habe hier getrunken und seine Ideen formuliert. Der Mann weiß, was man in einem Pub macht.

Die Ladies weisen darauf kokett hin, sie seien ja aus einer jüngeren Generation, selbst gesehen hätten sie Fleming nicht mehr, sie seien wahrscheinlich zur Schule gegangen, während er hier trank. Die Schweigsamere von den beiden will sich jetzt daran erinnern, dass Fleming hinter den Frauen hergewesen sei, aber bevor das zu weit geht, klinkt sich der Begleiter wieder ein und erzählt von Gerüchten, Ian Fleming habe im Krieg beim Geheimdienst MI 6 gedient und von da einige seiner Stoffe bekommen. Was wohl stimmt und zur Tradition der Gegend passen würde.

Und so geht das Gespräch noch eine Weile weiter. Wir kommen auf das untergegangene Empire und Heidelberg und den Krieg und das geflügelte Wort von John Cleese aus der Serie Faulty Towers – nämlich: Don’t mention the war! – was wir alle ganz fröhlich getan haben und niemandem hat´s geschadet.

 

Information:

VisitBritain,

Dorotheenstraße 54

10117 Berlin

gb-info@visitbritain.org.

Tel: 0180-146 86 42

 

The Moat Tea Rooms

67 Burgate

Canterbury, Kent, CT1 2HJ

 

Cathedral Gate hotel

36 Burgate

Canterbury, Kent, Kent CT1 2HA

 

The Duck Inn

Pett Bottom

Bridge, Kent. CT4 5PB

 

© Paul Stänner