Die Irrtümer der unmittelbaren Anschauung

Die Stadt ist ein Moloch. Autos in Jakarta fahren auf drei Spuren fünfspurig. Fahren Stoßstange an Stoßstange - Auspuff an Ansaugstutzen. Zentimetergenau. Zwischen ihnen wimmelt eine Springflut von Rollern, Mopeds, Motorrädern, die sich in jede freie oder auch nur frei erscheinende Lücke drängt. Die Mopedfahrer tragen Helme und Gesichtstücher gegen den Dreck in der Luft, mit Bärchen- oder Tigermotiven, je nach Persönlichkeit.

 

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Ganze Familien auf einem Roller: der Vater fährt, vor ihm steht fröhlich plappernd die fünfjährige Tochter, hinter ihm sitzt Gesicht an Rücken der noch kleinere Sohn und ganz hinten die Mutter, die versucht, alle zusammenzuhalten. Jeder auch unscheinbare Zwischenraum zwischen zwei Autos und drei Motorrädern wird genutzt. Wir sehen vor seinen Augen Kinder sterben. Das können sie nicht überleben.

 

Aber nein, sie rollen fröhlich weiter.

 

Jakarta bietet ein Bild, als hätte vier vertretbar bekiffte Chaostheoretiker versucht, eine  ultimative Praxis zu schaffen, der keine Theorie mehr gewachsen sein wird. Die Maßangabe "eine Daumenbreite" hat jegliche metaphorische Poesie verloren, sie ist genau das Kriterium, um das es gut geht - oder nicht. Und es geht gut: Wir beobachteten keine Unfälle, wir sahen kaum Autos mit einem Kratzer, alle waren supersauber, keine nennenswerten Blechschäden. Wir Besucher in unserem klimatisierten Taxi, das uns für fünfzehn Euro in zweieinhalb Stunden quer durch Jakarta fuhr (eher: bewegte), schauten mit fassungsloser Bewunderung auf das zäh fließende Durcheinander um uns herum.

 

Wie schaffen die das?

 

Nick, zu dessen Essenseinladung wir wegen des Standardstaus 45 Minuten zu spät kamen (wir waren  zum Glück nicht die letzten, aber es war sowieso egal, niemand rechnet mit pünktlichem Erscheinen) sagte, dass die Ojek, die Moped-Taxis, bei denen man auf dem Rücksitz sitzt, mittlerweile teurer seien als die klimatisierten Auto-Taxis, weil sie es schaffen, die Leute rechtzeitig zu ihren Terminen zu bringen. Zu seinen Teambesprechungen käme die Hälfte der Mitarbeiter mit dem Ojek, immer ein wenig verschmutzt.

 

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Naiv schwärmten wir von der urbanen Kompetenz der Jakarta-Bewohner, von ihrer Fähigkeit, mit ballerinenhafter Geschmeidigkeit unbeherrschbare Verkehrsströme berührungsfrei auszutänzeln.

 

Nick nahm einen tiefen Schluck Alkohol, so wie Engländer es vor bedeutungsschweren Sätzen meist tun, und sagte, diese Stadt sein voll von grauenhaften Unfällen. Nick ist im Finanzsektor tätig, einer seiner Klienten ist eine Firma, die solche Untersuchungen durchführe. Die Zahlen seien erschreckend.

 

Was wir eigentlich erwartet hätten?

 

Indonesier sind unglaublich höflich. Sie halten beständig Augenkontakt, sie lächeln, sie nicken zum Gruß nicht einfach deutsch mit dem Kopf, sondern mit Kopf und Hals und Oberkörper. Wenn ein Indonesier einem seinen Pass zurückgibt, tut er dies mit beiden Händen, als würde er eine wichtige Auszeichnung überreichen. Einen Berliner kann man mit so viel Freundlichkeit leicht beeindrucken, der ist nichts Gutes gewöhnt, aber selbst Rheinländerinnen sind entzückt. Die Menschen auf der Straße sind immer bereit, Auskünfte zu erteilen, Wege zu erklären oder Informationen zu beschaffen (auch wenn man besser noch eine zweite Quelle zu Rate zieht). Hilfsbereit, lächelnd, überschwänglich freundlich.

 

Nun gut, in der alten Kulturstadt Jogjakarta tauchte neben uns drei Mal derselbe Mann auf einem Moped auf, der uns hartnäckig den Weg zu einer art school  aufdrängte, die aber auch nach mehreren Abbiegungen immer noch nicht zu sehen war. Als wir entnervt abwinkten, begann er uns zu beschimpfen, wir seien wohl paranoid, was in dem Moment allerdings zutraf - aber ansonsten war alles wunderbar.

 

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Unbegrenzte Freundlichkeit schien uns im Erbgut der Indonesier verankert, bis Dave, der in Jogjakarta ein Resort aufbaut, wenn er nicht gerade als desaster manager für die UN Flüchtlingslager organisiert, uns die Triade der indonesischen Wutabfuhr erklärte: 1)Niemals in der Öffentlichkeit! 2)Wenn, dann zuhause bei Frau und Kind!

 

Und 3) müsse man sich klar machen, dass das Wort "A-mók" aus dem Indonesischen stamme: Ich laufe Amok, du läufst Amok, wir laufen Amok… Gelegentliche Pogrome gegen Minderheiten zeigten, dass dies kein Begriff aus der Mottenkiste sei.

 

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Wir waren versucht, uns den sehnigen Frühstückkellner des Hotels, der uns gerade den Evaluationsbogen des Hauses auf den Tisch gelegt hatte, als Teilnehmer eines Amok-Mobs vorzustellen. Die Fantasie versagte, aber die Bewertung fiel um des lieben Friedens willen sehr freundlich aus.

 

Überhaupt die Kellner: Wenn es so etwas wie die Globalisierung der Dienstleistungen gibt, setzen die indonesischen Serviererinnen die benchmark für die Branche. Mit langen, aufwändig bedruckten Röcken, die die jungen Frauen zu eleganten, gemessenen Schritte nötigen, kommen sie an den Tisch. Mit einem Lächeln, wie es charmanter nicht sein könnte, nehmen sie die Wünsche auf. Dienstbeflissen wiederholen sie die Angaben, damit beide Parteien sich einig sind über Art und Umfang der Bestellung - und bringen dann doch etwas anderes.

 

Solche Ungenauigkeiten hatten sich schon beim Frühstück angedeutet, als die junge Dame vier Tassen brachte, wo nur zwei erforderlich waren und - nach einem entsprechenden Hinweis - die überzähligen wieder mitnahm. Zumindest eine von ihnen.

 

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An anderer Stelle war zu erleben, wie eine Schöne im fließenden Gewand konzentriert der Bestellung lauschte, mit einem abschließenden Lächeln Entzücken auslöste - und in tiefer Entspanntheit, wie sie nur vollkommenes Unverständnis gewährt, wieder zu ihrem Platz neben der Kasse zurückkehrte. Sie hatte nichts verstanden, tat folglich nichts.

 

Offenbar, dies merkten wir nach und nach, sind die Kellnerinnen mit der englischen Sprache so vertraut wie wir damals als Messdiener mit der lateinischen - gelegentlich lassen einzelne Wörter ein Verstehen aufglimmen, aber es reicht nicht für ein Verständnis des Zusammenhangs.

 

Der leichtherzige Charme der Kellnerinnen entpuppte sich als zu bewundernde Fähigkeit, mit Niederlagen umzugehen. Den Gast nicht verstehen zu können, ist eine Niederlage. Da rettet nur ein Lächeln.

 

Die Schulbildung ist mangelhaft. Und sie wird, das wurde uns nicht nur von Dave und Nick versichert, noch schlechter, weil die fortschreitende Islamisierung des Unterrichts die Bedeutung der Religion hebt, aber nicht die der Intelligenz.

 

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Wir saßen beim Frühstück. Ei und Schinken kamen mit großem Abstand voneinander, obwohl sie zusammen auf der Karte gestanden hatten. Wir hatten Muße, einen Amerikaner asiatischer Herkunft zu beobachten, der den Tag damit begann, sich zügig mit einheimischen Bintang-Bier zuzulöten. Die Geistesgaben, nach denen sich die Kellnerin zur Sicherung ihres Arbeitsplatzes erkennbar sehnte, waren ihm schon zum Frühstück lästig.

 

Die Welt - erkennt man beim zweiten Blick - ist wohl nicht nur ungerecht, sondern auch unvernünftig.